Hört auf zu jammern! Die Berufsbildung braucht einen Perspektivenwechsel

erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 03.04.2016, 16.

 

Die Polarisierung der Berufsbildung ist eigenartig: International wird sie als Exportschlager und Garant gegen Jugendarbeitslosigkeit hochgelobt, selbst jammert sie relativ oft: über die Lehrabbrüche, die fehlenden guten Lehrlinge oder über die vielen, welche nicht «ausbildungsreif» seien. Nicht selten sieht sie sich auch als Prügelknabe des Gymnasiums, das ihr die begabten Jugendlichen wegschnappen würde.

Solche Klagen haben in Zeiten des Lehrlingsmangels keine günstige Wirkung auf die Attraktivität der Berufsbildung, bei den Jugendlichen selbst und vor allem auch bei den Eltern. Man kann nicht dauernd für sich selbst werben, gleichzeitig jedoch vor allem das Negative betonen. Deshalb wird die Berufsbildung nicht darum herumkommen, ihre Defizitorientierung durch eine Kultur des positiven Blicks zu ersetzen. Denn der Akademisierungstrend (immer mehr Jugendliche wollen in eine Fachmittelschule, etwas mehr ins Gymnasium) und die veränderte Demographie (sinkende Geburtenzahlen) lassen für die nächste Zeit keine Trendwende prognostizieren. Das duale Berufsbildungssystem wird sich folgedessen verstärkt als Talentschmiede darstellen, aber auch den Realschülern und den Jugendlichen im Übergangssystem öffnen müssen. Dies ist jedoch eine Klientel, die es bisher eher gemieden hat.

Im neuen Berufsbildungsgesetz wird die Förderung leistungsstarker Lehrlinge explizit als Aufgabe der Betriebe und Berufsschulen genannt. Diese Pflicht wird jedoch zu einer enormen Herausforderung, weil Potenziale nicht per se an guten Schulnoten und hohen Schulabschlüssen erkennbar sind, sondern spezifisch gesucht und erkannt werden müssen. Dies ist insofern bedeutsam, weil es viele an sich talentierte Lehrlinge gibt, die in der obligatorischen Schule nicht zu den guten, sondern erstaunlich oft zu den mittelmässigen oder schlechten Schülern oder gar zu den schulmüden und desinteressierten Minderleistern gehörten.

Zwar gibt es in der Praxis einige gute Projekte, Vorzeigebetriebe und Best-Practice-Berufsschulen, doch orientiert sich eine grosse Mehrheit nach wie vor am Ungenügen der Jugendlichen respektive an ihren Leistungsschwächen. Logischerweise haben deshalb Schulabgänger aus Realschulen und Sekundarschüler mit eher schlechten Noten einen eingeschränkten Zugang zum Ausbildungsmarkt. Sie sind diejenigen, die am häufigsten im Übergangssystem landen: Überdurchschnittlich oft absolvieren sie ein zehntes Schuljahr, ein Motivationssemester oder ein anderes Brückenangebot. Ihre Aussichten auf einen beruflichen Ausbildungsplatz sind auf ein begrenztes und häufig als wenig attraktiv erachtetes Berufsspektrum eingeengt.

Angesichts der aktuellen Situation tut die Berufsbildung gut daran, über die Bücher zu gehen. Betriebe sollten ihre Selektionsmassnahmen überdenken und stärker zwischen Leistung (Schulnoten, Schulniveau, Klassenwiederholungen etc.) und Fähigkeiten jenseits des schulischen Wissens unterscheiden. Wer zu sehr auf schulische Merkmale setzt, schränkt den Kreis möglicher guter Bewerberinnen und Bewerber stark ein und nutzt das vorhandene, aber oft kaum sichtbare Potenzial in keiner Art und Weise. Erfolg versprechender sind Rekrutierungsverfahren, die sich stärker auf Persönlichkeitsmerkmale konzentrieren: auf ein gutes Selbstvertrauen, auf das Interesse am Betrieb, auf die Bereitschaft, Neues zu lernen und sich zu engagieren – aber ebenso auf gute Schnupperlehren, auf eine proaktive Zusammenarbeit mit Schulen und auf einen frühen Einbezug der Eltern. Nur so bekommen auch als eher schlechte Schüler etikettierte Jugendliche überhaupt einen Zugang zum Auswahlprozess.

Mit Sicherheit werden Wirtschaft und Industrie zukünftig mehr denn je auf die Möglichkeit angewiesen sein, fachlich begabte Mitarbeitende rekrutieren zu können, die das handwerkliche Metier beherrschen und die berufliche Ausbildung nicht lediglich als Durchgangsstadium zur Fachhochschule nutzen, um dann einen anderen Beruf zu ergreifen. Ob sie Abgänger von Real-, Sekundar- oder Bezirksschulen sind, dürfte dabei eine eher unbedeutende Rolle spielen. Wesentlicher sind ihr Können und ihr inneres Feuer für den Beruf, das sie in der Ausbildung in ihrem Betrieb entwickelt haben.

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