Ein neues Phänomen: Spielunfähige Kinder

Das Spiel ist der entscheidende Motor für die kindliche Entwicklung und deshalb die wichtigste Frühfördermassnahme. Beim Spielen lernen Kinder für das Leben. Je spielhaltiger das Lernen ist, desto nachhaltiger ist es für die Intelligenzentwicklung und das psychische Wohlbefinden. Körperliche Aktivitäten haben auch einen wichtigen Einfluss auf die physische Gesundheit. Kinder, die viel im Freien spielen, erkranken seltener an Asthma, Niesanfällen, Heuschnupfen oder Ekzemen. Dies ist das Hauptergebnis der internationalen Untersuchung Parsifal*.

Das Spielen steht auch bei den Kindern selbst hoch im Kurs. Befragt man sie nach ihren liebsten Beschäftigungen, dann steht das Spiel im Freien gleich hinter «Freunde treffen» auf dem zweiten Platz – noch vor TV, Computer, Internet etc.** Deshalb ist es erstaunlich, dass auf Spielplätzen oft nur wenig Kinder anzutreffen sind. Gerade auch, weil viele Gemeinden Einiges investiert und sich bemüht haben, Spielplätze präventiv sicher zu machen: Sie wurden eingezäunt, die Schaukeln an genau bestimmten Orten befestigt und Rutschen verkleinert, feste Torpfosten entfernt, Kanten und Ecken abgerundet. Doch genau dies dürfte ein Grund sein, weshalb Kinder so selten dort sind. Am liebsten haben sie Orte zum Spielen, die Erwachsene gar nicht als Spielplätze deklarieren, beispielsweise Naturlandschaften, Hinterhöfe und nicht gesicherte Klettergerüste, Schaukeln und Sandkästen.

Nun wäre es falsch, Bauplaner für diese Problematik allein verantwortlich zu machen. Es gibt zwei grundsätzliche gesellschaftliche Probleme: die Angst- und Sicherheitskultur unserer Gesellschaft sowie der Hype um Förderkurse. Beide haben Auswirkungen auf das freie Spiel der Kinder.

Die Angst- und Sicherheitskultur: Unsere Gesellschaft hat eine beispielslose Angstkultur entwickelt, die sich auch in der Kinder-Sicherheitsbranche bemerkbar macht. Experten lassen keine Gelegenheit aus zu verkünden, Kinder seien permanent gefährdet, vom plötzlichen Kindstod bis zu Pädophilen, vom Sonnenbaden bis zum Strassenverkehr. Und sie appellieren an die Eltern, «eigenverantwortlich» und zum «Wohle des Kindes» zu handeln. Die verfügbaren Daten sprechen aber eine andere Sprache: Das Leben von Kindern ist noch nie so sicher gewesen wie heute, und auch Spielplätze sind nicht gefährlicher als vor zwanzig Jahren. Verändert hat sich lediglich unsere Wahrnehmung und unsere Angstkultur, denn körperliche Verletzungen gelten nicht mehr als normale Begleiterscheinungen des Kinderalltags.

Verständlicherweise führt diese Panikmache viele Väter und Mütter dazu, ihre Kinder keine Sekunde aus dem Auge zu lassen und deshalb das Spiel im Freien zu unterbinden.Und dies, obwohl die meisten Eltern die Frage nach dem idealen Spielort mit «die Natur» beantworten**. Solche Elternreaktionen haben jedoch zur Folge, dass Kinder nicht mehr lernen, sich richtig zu bewegen. Anstatt beim Spiel im Freien Balance, Koordination und Kraft zu trainieren und zu lernen, wie man richtig fällt, werden sie ruhig gestellt. Es erstaunt deshalb kaum, dass immer mehr Zahnärzte Kinder mit Frontzahnfrakturen aufgrund unabgefangener Stürze behandeln müssen. Würden Kinder mehr in der freien Natur spielen, würde auch das Unfallrisiko abnehmen.

Der Hype um die Förderkurse: In den letzten zehn Jahren hat der Fokus auf frühe Förderkurse dazu geführt, dass viele Eltern, glauben, das Spiel sei eine Zeitverschwendung und deshalb durch «sinnvollere Beschäftigungen» zu ersetzen. Darunter verstehen sie meist Kurse vom Baby-Yoga bis zum Klettern, vom Tennis bis zur Geigenstunde. Obwohl solche Aktivitäten für Kinder oft Spass bedeuten, führen sie zu übervollen Terminkalendern und zum Effekt, dass sie sich nicht mehr selbst beschäftigen können. Deshalb gibt es immer mehr spielunfähige Kinder. Paradox ist, dass sie oft gerade aus wohlhabenden und bildungsbeflissenen, aber überbehütenden Familien stammen.

Was soll man tun? Genau die falsche Strategie wäre es, noch sicherere und teurere Spielplätze zu schaffen, die jedes Risiko vermeiden. Die richtige Strategie wäre es, den öffentlichen Raum kinderfreundlicher zu gestalten: Mehr Orte für freies Spiel, zwischen denen keine Autofahrt liegt, sondern nur Kinderfüsse. Es braucht verdichtete Bauformen mit Freiräumen für Kinder, wo sie sich ohne Dauerüberwachung aufhalten können. Besonders wichtig ist, dass solche Spielräume auch ein gewisses Mass an Risiko bieten. Vor Gefahren muss man Kinder schützen, Risiken müssen sie eingehen dürfen, um daraus lernen zu können. Kinder brauchen keine grossen Schutzgebiete, aber überall ein bisschen mehr Freiheit zum Spielen.

 

* Waser, M., Michels, K. B., Bielei, H. et al. (2007). Inverse association of farm milk consumption with asthma and allergy in rural and suburban populations across Europe. Clinical & Experimental Allergy, 37, 5, 661-670.

** Raum für Kinderspiel. Studie des Deutschen Kinderhilfswerkes (2014). http://bit.ly/1Mm4bkb

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Kommentare 2

Gäste - caroline gander am Donnerstag, 21. Juli 2016 07:41

meine kinder spielen sehr schlecht, nach meinem geschmack, drinnen mit ihren spielsachen. draussen ist es kein problem. dauernd wollen sie beschäftigt werden. und immer muss jemand mit ihnen mitspielen obwohl sie zu zweit sind, 4jährige zwillinge! bin zu ungeduldig, habe ich als sie klein waren zu wenig mit ihnen gespielt? ich habe das auch schon von anderen eltern gehört, ist das auch ein neues phänomen oder bin ich falsch?

meine kinder spielen sehr schlecht, nach meinem geschmack, drinnen mit ihren spielsachen. draussen ist es kein problem. dauernd wollen sie beschäftigt werden. und immer muss jemand mit ihnen mitspielen obwohl sie zu zweit sind, 4jährige zwillinge! bin zu ungeduldig, habe ich als sie klein waren zu wenig mit ihnen gespielt? ich habe das auch schon von anderen eltern gehört, ist das auch ein neues phänomen oder bin ich falsch?
Gäste - carla am Freitag, 22. Juli 2016 08:12

die Zwillinge haben doch sich selber als Spielkameraden- geben Sie ihnen einen Ball- haben Sie Geduld-

die Zwillinge haben doch sich selber als Spielkameraden- geben Sie ihnen einen Ball- haben Sie Geduld-
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