Die Last der beruflichen Langeweile. Boreout ist ein ebenso grosses Problem unserer Leistungsgesellschaft wie Burnout

erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 27.06.2016, 16.

 

Burnout oder Überforderung durch Stress ist eine Epidemie geworden. Immer mehr Menschen melden sich krank, weil sie sich ausgebrannt fühlen. Neuerdings sollen auch schon Kinder und Jugendliche darunter leiden, weil sie den Anforderungen von Schule und Freizeit nicht mehr gewachsen sind. Dabei ist alles andere als klar, was sich denn genau hinter dem schillernden Begriff Burnout verbirgt. Doch die Diagnose Burnout ist beliebt und salonfähig. Denn sie beinhaltet, jemand habe etwas Grosses geleistet und sei deswegen krank geworden, während bei einer Depression alle sofort denken, dieser Mensch könnte schon, wenn er nur wollte.

Eigentlich beschäftigt mich das Gegenteil von Burnout mehr, das «Boreout». Definiert wird Boreout als Stress durch Langeweile, Unterforderung und Desinteresse, der zu psychischer Erschöpfung führen kann. Konkret bin ich diesem Phänomen in einer unserer Forschungsstudien zu talentierten Lehrlingen begegnet. Jeder dritte von ihnen hatte angegeben, in der Ausbildung oft Langeweile zu haben und nicht selten richtig zu wissen, was zu tun. Kann dies sein? Jeder Betrieb reibt sich doch die Hände, wenn er talentierte Mitarbeitende hat.

Tatsächlich sind Langeweile und ihre Folgen weiter verbreitet als wir denken. Das Problem ist nur, dass wir dies nicht ernst nehmen oder sogar belächeln. In einer Gesellschaft, in der Leistung das Mass aller Dinge ist, jeder um seinen Arbeitsplatz kämpft und Burnout-Kliniken aus allen Nähten platzen, darf man auf keinen Fall über Unterforderung klagen, dass man nicht genug zu tun hat, falsch eingesetzt ist oder kein Interesse an seiner Arbeit hat. Deshalb wird das Boreout-Problem tabuisiert oder hinuntergespielt und als Faulheit abgetischt. Wer sich im beruflichen Alltag langweilt und unterfordert ist, will doch nur eine «ruhige Kugel» schieben und ist deshalb selber Schuld!

Dem ist nicht so. Boreout entsteht durch zu wenige oder falsche Aufgaben und nicht durch das süsse Nichtstun. Ein Teilnehmer unserer Studie aus der IT-Branche erklärt dies so: Er habe sehr profitiert und sei vorwärts gekommen in seiner Berufslehre. Dann hätte die Firma plötzlich eine Auftragsflaute gehabt und sei Konkurs gegangen. Sie sei dann von einer anderen Firma übernommen worden, die ebenfalls Lehrlinge ausbildet. Von da an habe es Leerlauf gegeben. Plötzlich habe er nur noch belanglose Aufgaben bekommen, und es seien immer weniger geworden. Sein Stress war, dass ihm nichts mehr zugemutet wurde. Bis dahin war er ein begeisterter Lehrling gewesen, der immer gern gearbeitet hatte. Plötzlich war er nur noch eine unterbeschäftigte Nummer, bekam psychische Störungen und musste die Ausbildung schliesslich abbrechen.

Das Beispiel zeigt: In Boreout kann man durch Minderanforderung und Unterbeschäftigung hinein schlittern. Und weil dies so verpönt ist, versucht man es zu vertuschen. Denn wer nur Löcher in die Luft starrt, riskiert seinen Arbeitsplatz. Deshalb sitzt man am Schreibtisch oder am Schalter, zählt die Minuten bis zum Feierabend, gibt jedoch immer vor, beschäftigt zu sein und erledigt die Arbeit langsamer als man könnte. Manchmal macht man sogar Überstunden, um das Nichtstun zu kaschieren oder berichtet den Kollegen von einem Berg an Arbeit, der zu erledigen ist. Solche Vertuschungsstrategien erzeugen aber Stress und belasten die Gesundheit – genauso wie Burnout.

Die Auswirkungen von Boreout können für die Person selbst als auch ihren Arbeitgeber gravierend sein. Wer sich langweilt, verliert Interesse und Neugier am Job, wer unterfordert ist, kann seine Fähigkeiten nicht weiter entwickeln. Zusammen führt dies zu Resignation und Dienst nach Vorschrift – und für den Arbeitgeber zu höheren Kosten infolge unproduktiver Arbeitszeit.

Was wäre zu tun? Boreout ist nicht einfach dadurch zu beheben, dass man wieder mehr Arbeit bekommt. Damit wird nur die quantitative Unterforderung behoben. Es braucht eine Passung zwischen Person und Tätigkeit im Hinblick auf Fähigkeiten und Anforderungen. Das Wichtigste aber ist die Eigenverantwortung: Wer sich selbst als Opfer sieht und überzeugt ist, die Situation sei ausschliesslich auf den Betrieb selbst zurückzuführen, sollte selbstkritisch in den Spiegel schauen und handeln.

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