Der Ärger mit dem Lärm spielender Kinder

 

Meine Kolumnen schreibe ich meistens am Wochenende daheim in Aarau. Auf meinem Schreibtisch habe ich immer eine Schachtel Oropax griffbereit, um mich vor dem Lärm der spielenden Nachbarskinder zu schützen. Solche Stöpsel nutze ich gerne, denn Kinder haben nicht nur ein Recht auf Bildung, sondern auch ein Recht auf das Spielen!

Das freie Spiel hat schlechte Karten

Schon Friedrich Schiller hat gesagt, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spielt. Wie Recht er hat, kann ich jeweils von meinem Fenster aus am Beispiel des kleinen Mädchens beobachten, wenn es hochkonzentriert mit älteren Knaben Fussball spielt und sich mächtig behaupten muss. Aber es tut dies mit Bravour und ahmt ihre Tricks unermüdlich nach: Antritt, Schuss, Tor – und das Ganze beginnt von vorne. Diese Kinder liefern ein gutes Beispiel dafür, weshalb körperliche Aktivitäten einen wichtigen Einfluss auf die physische Gesundheit und das geistige Wohlbefinden haben. Viele Studien belegen, dass das Spielen im Freien ein entscheidender Entwicklungsmotor ist.

Doch das freie Spiel hat schlechte Karten. Ein wichtiger Grund geht auf die internationalen Vergleichsstudien PISA zurück. Aufgrund des lediglich mittelmässigen Abschneidens der 15jährigen im Jahr 2000 war sich die Politik sicher, das Problem müsse nach unten gereicht und durch eine frühere Einschulung sowie systematisches vorschulisches Lernen kompensiert werden. Eine Folge davon ist die Tatsache, dass Kinder heute mit dem abgeschlossenen vierten Altersjahr schulpflichtig werden und im Kindergarten das schulähnliche Lernen dominiert. Deshalb erstaunt es kaum, dass das freie Spiel in diesen fast zwanzig Jahren um mehr als ein Drittel zurückgegangen ist und oftmals als altmodisches, unnützes Tun oder als Zeitverschwendung gilt.

Die Indoor-Krankheit

Auch andere Gründe tragen zur Spielskepsis bei, beispielsweise die mangelnden Freiräume für Kinder. Zwar wird viel über die Verbesserung ihrer Lebenswelt diskutiert, aber immer sogleich auf die Eigenverantwortung der Eltern hingewiesen. Wenn Kinder mit ihrem fröhlichen Spiel Lärm verursachen, protestieren die Nachbarn sofort. Viel lieber sieht man es, wenn sie von Mama und Papa in der Wohnung ruhig gestellt werden – Fachleute nennen dies die «Indoor-Krankheit». Und als vorbildlich gilt, wenn die Eltern alle kindlichen Kontakte managen und regeln, mit welchen Aktivitäten der Nachwuchs wo, wie und in welcher Gruppe die freie Zeit verbringt. Unsere Gesellschaft ist überzeugt, dass eine detaillierte Wochenorganisation den Kindern Strukturen gibt und sie auch vor unnützem Nichtstun schützt.

Ist das wirklich so? Natürlich gilt ein gutes Management als wichtiges Fundament einer Familie. Doch minutiös durchgetaktete Wochenstrukturen haben zur Folge, dass Kinder keine Gelegenheit mehr zum Spielen bekommen und deshalb gar nicht wissen können, wie das geht. Das Spielen ist nämlich keine angeborene Tätigkeit, es muss gelernt werden – und dafür braucht es Zeit und zumindest ein bisschen Musse.

Das freie Spielen steht für Kinder auf dem zweiten Platz!

Die Spielabstinenz hat aber auch mit dem gesellschaftlichen Sicherheitsdenken zu tun. So gibt es viele teuer eingerichtete Spielplätze, die auf Empfehlung der Sicherheitsindustrie in den letzten Jahren aus Haftungsgründen präventiv sicher gemacht worden sind. Sie wurden eingezäunt, Schaukeln an genau bestimmten Orten befestigt und Rutschen verkleinert, feste Torpfosten entfernt sowie Kanten und Ecken abgerundet. Das Einzige, was ihnen oft fehlt, sind Kinder. Das ist eigenartig. Denn befragt man Primarschüler, so steht das Spielen im Freien gleich hinter «Freunde treffen» auf dem zweiten Platz – noch vor TV und Computer. Doch Kinder möchten am liebsten selbstgewählte und von Erwachsenen freie Orte, etwa wuchernde Wiesen, Waldränder oder kleine Bäche.

Selbstverständlich darf man nicht dramatisieren. Aber wir sollten die Krise des fehlenden Spiels dazu nutzen, dem Verständnis dessen, was eine entwicklungsförderliche und gesunde Kindheit sein soll, neuen Schwung zu verleihen. Kinder brauchen keine grossen Schutzgebiete, aber überall mehr Freiräume zum Spielen und ein gewisses Mass an Risiko. Die Gemeinde- und Stadtentwicklungspolitik ist dafür die beste Sozialarbeiterin, weil sie die kindlichen Entwicklungschancen am stärksten beeinflussen kann.

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