Arbeiterkinder und ihre Aufstiegsangst

Arbeiterkinder und ihre Aufstiegsangst

Am 9. September 2019 erscheint unser Buch "Arbeiterkinder und ihre Aufstiegsangst. Probleme und Chancen von jungen Menschen auf dem Weg nach oben". Verlag Barbara Budrich: https://shop.budrich-academic.de/produkt/arbeiterkinder-und-ihre-aufstiegsangst/?v=1ee0bf89c5d1

Hier ein Auszug aus meiner Einleitung.

 

Bildung und Ausbildung sind in allen modernen Gesellschaften zu entscheidenden Größen für die soziale Platzierung der Individuen und die beruflichen Chancen im Lebensverlauf geworden. Demnach ist zentral, wie die Bildungschancen verteilt werden und welche Rolle dabei die soziale Herkunft spielt. Als besonders problematisch erweist sich die im Zuge der PISA-Ergebnisse aufs Neue und nachhaltig in das Blickfeld geratene Spezifik, dass in allen deutschsprachigen Staaten das kulturelle und ökonomische Kapital der Eltern in hohem Ausmaß mit dem Bildungserfolg korreliert. Trotz des Ausbaus des Bildungssystems und der zunehmenden Beteiligung in höheren Bildungsstufen, meist «Bildungsexpansion» genannt, hängen die Bildungschancen von leistungsfremden Kriterien ab, wie der sozialen und kulturellen Herkunft, dem Migrationshintergrund oder dem Geschlecht. Diese empirischen Tatsachen haben das Bild verwirklichter Chancengleichheit massiv gestört und zur Kritik geführt, sie sei vor allem Programm geblieben.

Arbeiterkinder bleiben außen vor

Gymnasium und Universitäten sind weitgehend das Privileg der Schichten geblieben, die schon Bildung haben. Arbeiterkinder bleiben weitgehend außen vor. Rolf Becker, Wilfried Bos und andere haben vertieft untersucht, was dies für die Chancengleichheit bedeutet. So haben Akademikerkinder, unter Berücksichtigung aller leistungsbezogenen Kriterien, im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern von Eltern mit niedrigem Bildungsniveau eine gut dreimal bessere Chance, auf höhere Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I zu wechseln und eine viermal höhere Chance, ein Abitur/eine Matura zu erwerben.

Folgedessen ist es kaum erstaunlich, dass sich auch in wissenschaftlichen Karrieren wenig Bildungsaufsteiger finden, denn eine solche Laufbahn setzt ein erfolgreiches Studium voraus, und wenn dieses in erster Linie von akademischen Schichten absolviert wird, ist der Anteil an Aufsteigern aus einfachen Sozialschichten klein. Zahlreiche Studien weisen sogar darauf hin, dass das Schulsystem selbst die Reproduktion sozialer Ungleichheitsverhältnisse weiter forciert, und ungleiche Ausgangsbedingungen in einem scheinbar fairen Leistungswettbewerb im Bildungssystem zwangsläufig zu einer Reproduktion bereits bestehender sozialer Ungleichheiten führen.

Der Bildungsaufstieg eines Arbeiterkindes ist keine Momentaufnahme, sondern ein langer Prozess

In unserer Publikation wird der Begriff Bildungsaufstieg als federführende Klammer verwendet, weil ihm aus einer umfassenden Perspektive, welche nicht ausschließlich den Hochschulzugang betrifft, die Hürden subsummiert werden können, welche Arbeiterkindern und solchen aus benachteiligten Migrantenfamilien in den Weg gelegt werden. Aus einer solchen Perspektive zeigt sich, dass ein Bildungsaufstieg keine Momentaufnahme einer jungen erwachsenen Person darstellt, sondern ein viel früher einsetzender Prozess.

Dabei gilt es zu unterstreichen, dass Bildungsaufstieg nicht erst mit dem Studium beginnt, sondern viel früher. Deshalb dürfte die erste Schulzeit – Übergang in Kindergarten und Grundschule – die wichtigsten Nadelöhre sein. Sind Arbeiterkinder einmal ins Gymnasium gelangt, werden sie deutlich weniger benachteiligt. Die Benachteiligung besteht in erster Linie darin, dass von ihnen viel zu wenige den Sprung ins Gymnasium schaffen.

Bildungschancen hängen nicht nur vom Bildungssystem ab!

Allen unseren Beiträgen gemeinsam ist erstens der Blick auf die Ressourcen und Potenziale, welche soziale Aufstiegsmobilität ermöglichen und Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene trotzherkunftsbedingter Nachteile Barrieren überwinden und eine erfolgreiche Bildungskarriere absolvieren lassen. Zweitens zeigen die Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven auf, dass Bildungschancen kaum lediglich von Bildungssystemen abhängen und erfolgreiche Schul- und Berufslaufbahnen von Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteigern nicht nur auf diesen einen Faktor reduziert werden dürfen. Ungleichheitsbedingungen sind auch anderswo zu finden. Es sind insbesondere gesellschaftliche und innerfamiliäre Hintergründe, welche die unerwünschte Hierarchisierung des Bildungssystems fördern (zunehmende wirtschaftliche Ungleichheiten, unterschiedliche Erwartungen von Eltern und milieubedingte Distanzen unterer Schichten gegenüber akademischer Bildung, mangelnde Durchlässigkeit), aber auch Aufstiegsängste, welche junge Menschen oft begleiten und dazu beitragen, dass Bildungs- und Berufsaufstiege kaum zielgerichtet geplant werden oder von Anfang an feststehen.

Obwohl Aufstiegsängste keinesfalls überbewertet werden dürfen, weil ein Bildungsaufstieg nicht zwingend und vor allem nicht in allen Lebensphasen mit Entfremdungserfahrungen einhergehen muss, sollten solche Aspekte Eingang in die Fachdiskussion finden. Sie ermöglichen, die traditionelle Perspektive auf Bildungsaufstiege zu erweitern und zwingen uns auf dieser neuen Basis dazu, nach den Grenzen bisheriger Bemühungen um Chancengleichheit zu fragen.

 

Ich danke den Autorinnen und Autoren herzlich für ihre engagierten Beiträge!

Dr. Jakob Kost

Dr. Regina Soremski

Dr. Anja Böning & Prof. Dr. Christina Möller

Prof. Dr. Steffen Schindler

Prof. Dr. Helmut Heid

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