Das Digitalisierungsmonster und seine ausgeblendeten Auswirkungen

Die Digitalisierung ist mächtig und scheint so unausweichlich wie ein Naturereignis. Bei genauerem Hinsehen stimmt dies natürlich nicht. Die Digitalisierung ist kein Naturereignis, sondern das Ergebnis wichtiger kollektiver Entscheidungen von bestimmten Gremien. Kantone beispielsweise sprechen plötzlich trotz Finanzknappheit namhafte Summen, um die Digitalisierung im Bildungswesen voranzutreiben.

Wie wachsen Kinder in die digitale Welt hinein?

Als Bildungsforscherin macht mir Sorgen, wie schnell diese Welle voranschreitet – schneller, als wir überhaupt verarbeiten können. Selbstverständlich kann man beschwichtigen: Das ist halt so bei derart fundamentalen Umwälzungen. Trotzdem sollten wir uns nicht einfach nur auf die Verdauung der Digitalisierung konzentrieren, sondern auch dafür schauen, dass sie in unserem Magen aufstösst.

Grundsätzlich bin ich eine Digitalisierungsbefürworterin. Ich erwarte keine Kollateralschäden bei unserem Nachwuchs und auch keinen Absturz der zwischenmenschlichen Kommunikation. Internet, Computer und Smartphones machen nicht einfach dumm, so wie dies immer wieder behauptet und gefordert wird, wir sollten uns aus dieser neuen Aufgabe heraushalten. Es geht auch nicht um die Frage, ob Kinder mit oder ohne digitale Medien besser rechnen und lesen können, sondern: Wie wachsen sie und  wir in die digitale Welt hinein?

Etwas Kleines programmiert zu haben, genügt nicht

Die Digitalisierung steht am Anfang ihrer Entwicklung. Genau deshalb ist die Debatte jetzt wichtig, auch wenn noch wenige Menschen als «digital experts» bezeichnet werden können. Deshalb brauchen wir IT-Fachleute, die sich in dem, was sie tun, auskennen, komplexe Sachverhalte verstehen und sich entsprechend formulieren können. Was wir hingegen nicht brauchen, sind halbgebildete Berufsleute oder Studienabgänger, die schon mal etwas Kleines programmiert haben. Vor diesem Hintergrund ist es wenig nachvollziehbar, warum schon (alle) Primarschüler programmieren lernen sollen.

Die unkritische Forderung nach Digitalisierung wirkt manchmal wie ein Business-Trend. Früher war es der Programmierte Unterricht, der mit genau der gleichen Euphorie postuliert wurde. Man wollte nur noch Generalisten und krempelte Curricula und Studienpläne um. Am Ende – und zusammen mit dem Fachkräftemangel – waren dann doch wieder Spezialisten gefragt.

Wer nicht genau arbeiten kann, hat Mühe, eine Programmiersprache zu beherrschen

In der ganzen Diskussion geht die triviale Tatsache vergessen, dass Schüler (und auch Studierende) immer häufiger nachfragen, weshalb Rechtschreibung so wichtig ist oder Algebra und warum man so genau bibliographieren können muss. Oft haben Lehrkräfte und Dozenten keine Antwort darauf. Eine Antwort zu haben wäre aber wichtig, gerade, weil sich in kleinsten Software-Projekten schon zeigt, dass Menschen, die nicht genau arbeiten, sich ebenso wenig gut ausdrücken und komplexe Sachverhalte verstehen können. Deshalb haben sie von Anfang an grosse Probleme mit der Digitalisierung. Und zwar in erster Linie deshalb, weil sie gar nie lernen mussten, genau zu arbeiten oder die Grammatik der Sprache zu kennen. Es dürfte naheliegend sein, dass es für solche Menschen schwierig ist, eine Programmiersprache zu beherrschen.

Der Hype um die Digitalisierung blendet Wichtiges aus

Am Hype um die Digitalisierung lassen sich zwei Punkte kritisieren:

Die Ausblendung der Auswirkungen der sozialen und emotionalen Dimension: Die Euphorie um Digitalisierung bleibt unhinterfragt, und Digitalisierung gilt als alternativlos. Ob dem so ist, weiss heute kein Mensch. Wichtiger ist jedoch, dass jenseits dieser Behauptung die bedeutsamste Dimension ausgeblendet wird, nämlich die Auswirkungen der sozialen und emotionalen Dimension. Das Digitalisierungsmonster raubt den Schlaf, macht abhängig und ist mit hohen Nebenwirkungs- und Suchtgefährdungsraten verbunden. Zudem spionieren die Geräte ihre Nutzer aus, erheben Daten und Profile und gewinnen so Wissen, das sie zur Steuerung des Individuums einsetzen können.

Die Vergrösserung der sozialen Spaltung: Digitalisierung kann nicht als neutrales Instrument verstanden werden, das zu mehr Bildungsgerechtigkeit führt. Digitalisierung vergrössert die soziale Spaltung, die wir seit den siebziger Jahren eigentlich überwinden möchten. Eine Ursache ist das sehr unterschiedlich vorhandene kulturelle Familienkapital, d.h. inwiefern Eltern ihren Kindern lehren können, mit digitalen Medien so umzugehen, dass sie tatsächlich bildungserfolgreicher werden.

Und schliesslich gibt es einen anderen Trend, der uns sehr zu denken geben müsste: In einem Artikel der New York Post war 2016* zu lesen, dass leitende Angestellte im Silicon Valley  ihre Kinder nicht auf In-Technoschulen schicken, wo sie schon früh Experten für I-Phone und Tablets werden, sondern auf Schulen, in denen das Leben der Kinder bewusst frei von digitalen Medien gestaltet wird. Ähnliches ist hierzulande festzustellen: Privatschulen mit dem Slogan «Zurück zur Natur» oder auch die Waldkindergärten haben einen enormen Zulauf...

 

Weiterführende Literatur

*https://www.nytimes.com/2016/10/23/magazine/the-anti-helicopter-parents-plea-let-kids-play.html

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