Eine traditionelle Erkenntnis der Forschung zu Selektionsverfahren in der beruflichen Grundbildung ist die, dass die Engpässe der vergangenen Jahre die Zugangschancen bestimmter Gruppen gefördert, anderer Gruppen hingegen behindert haben*. So liegt bis heute die Ausbildungsbeteiligung junger Ausländerinnen und Ausländer unter denjenigen der Einheimischen. Anerkannt ist dabei, dass es vor allem betriebliche Auswahlstrategien sind, welche sie benachteiligen. Darüber hinaus weisen insbesondere Schülerinnen und Schüler aus anforderungsniedrigen Schulstufen deutlich geringere Einmündungsquoten auf, weil sie sich häufiger in der Warteschlaufe befinden als Jugendliche höherer Schulniveaus. Gerade für Jugendliche aus einfachen (Migranten)-Familien trifft dies ausgesprochen oft zu.

Benachteiligung von Realschülern

Diese Situation hat sich aktuell zwar aufgrund des Lehrlingsmangels etwas abgeschwächt. Trotzdem waren im April 2017 immer noch mehr als 16'000 Personen in der Warteschlaufe. Aus der Forschung ist bekannt, dass es sich dabei um besonders viele Realschülerinnen und Realschüler handelt. Weshalb werden vor allem sie in der Berufseinmündungsphase derart krass benachteiligt? Zum ersten, weil seit vielen Jahren höher qualifizierte Schulabgänger in umfassenderem Ausmass zur Verfügung stehen, sodass Betriebe vermehrt Jugendliche mit einem Abschluss auf einem anforderungshöheren Schulniveau wählen können. Negativ gewendet gehen damit zweitens bestimmte Merkmale von Jugendlichen einher, die vorurteilsbehaftet sind**.

Negative und positive Diskriminierung

Diskriminierend wirken Schulabschlüsse (wie Realschule), ethnische Herkunft oder auch das Geschlecht. Sie führen zu einem allgemeinen Tunnelblick, der im Einzelfall negative – oder positive – Diskriminierungen nach sich zieht. Um eine positive Diskriminierung handelt es sich dann, wenn Jugendliche beispielsweise aufgrund ihres hohen Schulabschlusses oder ihrer bildungsnahen familiären Herkunft a priori positiv beurteilt werden und deshalb ohne grosse Bemühungen zu einem Ausbildungsplatz kommen. Gleichzeitig werden Realschülerinnen und -schüler mit negativen Diskriminierungen konfrontiert.

Unterdurchschnittliches Zutrauen in Realschülerinnen und Realschüler

Realschülern wird grundsätzlich weniger zugetraut. Man könnte dies auch als negativen Pygmalioneffekt bezeichnen (d.h. dass sich eine vorweggenommene negative Einschätzung eines Schülers oder einer Schülerin durch eine Lehrperson im späteren Verlauf bestätigt.

Positive und negative Diskriminierungen zeigen sich dort, wo

Solche Muster lassen sich auch mit der so genannten «Diskreditierungsthese»**** erklären. Demzufolge werden Realschüler gerade wegen des Trends zu höheren Schulabschlüssen immer mehr als minderwertige Gruppe wahrgenommen. Dies zeigt sich beispielsweise im weit verbreiteten Vorurteil, dass ihre Voraussetzungen nicht ausreichen würden, um erfolgreich eine Berufslehre zu absolvieren und dann einen guten Abschluss zu erzielen. Diese These hat sich in unseren Untersuchungen bestätigt. Viele Betriebe nehmen Realschüler nicht nur als normabweichende Minderheit wahr, sondern diskreditieren sie auch, indem sie ihnen gar keine Chance geben, sich im Bewerbungsprozess um eine Lehrstelle überhaupt präsentieren zu können. Und dies unabhängig davon, ob sie die beruflichen Anforderungen für eine Ausbildung im entsprechenden Segment erfüllen würden oder nicht.

Nur: In allen unserer bisherigen Forschungsstudien zeigt sich, dass auch Realschülerinnen und Realschüler über verdecktes Potenzial verfügen. Unsere Forschungsstudie zu den Medaillengewinnern an den SwissSkills 2014 zeigen, dass zwar drei Viertel von ihnen in der obligatorischen Schule lediglich mittelmässig oder gar schlecht waren und dazu oft noch faul. Und viele können auch mit keinem hohen Schulabschluss punkten. Vierzig Prozent haben nur einen mittleren, zwanzig Prozent sogar einen niedrigen Abschluss, also einen der Realschule. Trotzdem konnten sie sich während der Berufslehre entfalten und  an den Berufsmeisterschaften eine Medaille gewinnen.

Der Tunnelblick auf gute Noten

Unsere Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die vielen Klagen von Betrieben, sie würden nicht genügend «gute» Lehrlinge finden. Schulnoten oder ein hoher Schulabschluss sagen eben wenig über das Entwicklungspotenzial aus, das in einem jungen Menschen steckt. Unsere Medaillengewinner sind das beste Beispiel dafür, dass die Berufslehre für viele nicht nur zur zweiten Chance geworden ist, sondern auch zu Leistungsexplosionen geführt hat. Aber nur, weil ihnen die Betriebe überhaupt eine Chance gegeben haben!

 

Weiterführende Literatur

*Imdorf, C. (2014). Die Bedeutung von Schulqualifikationen, nationaler Herkunft und Geschlecht beim Übergang von der Schule in die betriebliche Berufsausbildung. In M. P. Neuenschwander (Hrsg.), Selektion in Schule und Arbeitsmarkt (S. 41-62). Zürich/Chur: Rüegger.

**Ebbinghaus, M. & Loter, K. (2010). Besetzung von Ausbildungsstellen. Eine Untersuchung zum Einfluss von Struktur- und Ausbildungsmerkmalen. Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB).

***Ebbinghaus, M., Bahl, A., Flemming, S., Hucker, T., Kroll, S. & Uhly, A. (2011). Rekrutierung von Auszubildenden. Betriebliches Ausbildungsverhalten im Kontext des demografischen Wandels. Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung. Egloff, E. & Jungo, D. (2013). Elterninformation Berufswahl. Bern: Schulverlag plus.

****Solga, H. & Menze, L. (2013). Der Zugang zur Ausbildung. Wie integrationsfähig ist das deutsche Berufsbildungssystem? WSI-Mitteilungen, 66, 1, Schwerpunktheft «Von Insidern und Outsidern. Zur Integrationsfähigkeit des Berufsbildungssystems», 5-14.