erschienen in: NZZ, 20.07., 2020, 8.


Mutter sein und Kinder haben ist das grösste Glück, so will es die Gesellschaft. Doch eine Zukunft als Mutter macht manchen Frauen Angst. Und diejenigen, die sich dafür entscheiden, erfahren bald, dass die Erziehung von Kindern eine manchmal verschleissende 24/7-Aufgabe ist. Doch wer etwas Negatives über die eigene Mutterrolle oder die Kinder äussert, wird immer noch als Rabenmutter abgestempelt, weshalb die meisten Frauen ihre Sorgen oder Frustrationen lieber für sich behalten.

Unsere Gesellschaft ist einem Mutterideal verpflichtet, dem keine Frau genügen kann, auch wenn sie Vollzeit-Mutter wird. Doch wohin wir auch blicken, auf Glanz und Gloria, Social Media oder auf Influencerinnen, überall werden uns endlose Paraden perfekter Supermütter präsentiert. Sie machen uns glauben, dass sie ihre Kinder immer in den Mittelpunkt stellen, sie viel mehr als die Berufstätigkeit lieben und dass das Geld keine Rolle spielt, weil man es einfach hat.

Überbeanspruchung

Im Alltag der meisten Frauen sieht es anders aus. Zwar können Mütter ihre persönlichen Ambitionen haben und eigenes Geld verdienen, Kinder ohne Partner aufziehen, sich für eine Vollzeit-Mutterschaft oder eine Vollzeit-Berufstätigkeit entscheiden. Doch welches Modell sie auch wählen, sie sollten die Kinder immer priorisieren, auch wenn dies zur Überbeanspruchung führt.

Das Ideal der guten Mutter setzt auf eine noch nie in diesem Ausmass dagewesene Glorifizierung des Mütterlichen. Dieser «Mama-Mythos» ist mit normativen Vorgaben an ein perfektionistisches Mutterbild belegt, das die Frauen zugleich entzweit. In den letzten Jahren ist eine teilweise unheilvolle Konkurrenz zwischen Müttern entstanden. Viele Frauen wetteifern miteinander, wer die beste Mutter ist und die tollsten Kindergeburtstage schmeisst, die gesündesten Znünis einpackt, gleichzeitig auch noch toll aussieht und eine gute Figur hat. Und vor allem reagieren viele Mütter besonders sensibel auf Familienmodelle anderer Frauen, weshalb die oft zitierte weibliche Solidargemeinschaft in dieser Hinsicht nicht besonders stabil ist. 

Es wäre aber falsch, die Auswirkungen des Mama-Mythos ausschliesslich negativ zu diskutieren. Denn es ist nicht in erster Linie die Mütter-Konkurrenz der Frauen an sich, die zu negativen Begleiterscheinungen führen kann, sondern wie intensiv Mutterschaft praktiziert wird und ob der Vater als autonomer gleichberechtigter Partner akzeptiert wird.  Manchen Frauen, welche ein realistisches und nicht von Selbstaufgabe geprägtes Verständnis von Muttersein in einer egalitären Partnerschaft entwickeln, gelingt dieser Spagat. Doch in unserer Studie wehrt sich fast jede dritte Mutter offen oder verdeckt gegen zu viel Engagement des Partners. Sie nörgelt, wie er sich mit dem Kind beschäftigt oder gibt ihm wie einem Juniorpartner vor, was er im Haushalt wie zu erledigen hat – beklagt sich aber trotzdem über die Bürde ihres Mutterseins. «Maternal Gatekeeping» heisst dieses Phänomen in der Wissenschaft.

Reale und gefühlte Last

Problematisch ist das Ideal der intensiven, ausschliesslich am Kind orientierten Mama aus verschiedenen Gründen. Erstens weil in unserer Studie siebzig Prozent der berufstätigen Frauen angeben, die familiäre Hauptverantwortung zu tragen und sich deshalb nicht zurücklehnen oder das Engagement senken zu können. Sonst würde ihnen vorgeworfen, manchmal sogar von den eigenen Müttern oder Schwiegermüttern, die Kinder bekämen zu wenig Fürsorge und würden nicht gut erzogen. Fünfzig Prozent der Befragten haben ein wiederkehrend schlechtes Gewissen oder Gefühle des permanenten unter Druckseins, und viele lässt die gefühlte Last fast zusammenbrechen. Folgt man den zur Verfügung stehenden Daten, dann ist die Zahl der Mütter mit Erschöpfungssyndromen bis hin zum Burnout mit Schlafstörungen, Angstzuständen, Kopfschmerzen oder ähnlichen Symptomen in den letzten Jahren bis zu dreissig Prozent gestiegen.

Zweitens tut das Dogma der intensiven Mama den Kindern nicht gut, weil es oft in eine ungesunde Form von Überbehütung, Verwöhnung und dauernder Kontrolle umschlagen kann. Doch manche Frauen reagieren auf solche Warnungen völlig sprachlos. Ihr Kind sei überbehütet? Aber ist es nicht gut, wenn man besonders genau auf seine Sprösslinge achtet, sie behütet und kontrolliert? Nein, lautet die klare Antwort von Psychologie und Erziehungswissenschaft. Wer nur im Mama-Selbst lebt, für das Kind alles tut, noch bevor es einen Wunsch äussern kann und die Grenzen zu ihm verwischt, vermittelt ihm, dass die Mama die einzig wichtige Person in der Welt ist. Und sie macht es ihm auch unmöglich, sich aus einer solchen Überbindung im Laufe der Kindheit zu lösen und sich als eigenständiges und von der Mutter getrenntes Individuum entwickeln zu können. Kinder brauchen keine Übersättigung mit Zuwendung und auch keine symbiotische Beziehung zur Mutter.

Schliesslich ist der Mama-Mythos ein Produkt unserer kontroll- und überwachungsfreudigen Gesellschaft. Oft scheint es, als ob Mütter dem ganzen Land gehören, weil sie seine Kinder grossziehen und deren Zukunft bestimmen. Mehr denn je werden Frauen im Alltag beobachtet, mit ungefragten Ratschlägen und Kritik eingedeckt – in Bus und Tram, beim Einkaufen, im Restaurant oder beim Spazieren. Mütter gelten als öffentliche Personen und ihre Kinder als Besitz der Allgemeinheit. Teilweise mag dies ebenso für engagierte Väter zutreffen, doch Mütter sind wahrscheinlich die am stärksten beobachtete und kritisierte Gruppe unserer Gesellschaft. Die Rückmeldungen von Unbekannten orientieren sich meist an den Standards der perfekten Mutter, also ob das Kind brav, nicht zu laut und nicht zu still ist, aber auch nicht verwöhnt oder vernachlässigt wirkt. Dies bleibt für Frauen nicht ohne Wirkung. Manche Mütter können eine Kritik gut kontern, andere empfinden sie wie einen Schlag ins Gesicht, fühlen sich dadurch verunsichert und bekommen vermehrt Schuldgefühle.

Der Mama-Mythos und ungelöste Machtfragen

Dass sich der Mama-Mythos angesichts der massiven Gleichstellungsbemühungen in den letzten Jahren nicht verflüchtigt hat, ist sehr erstaunlich. Weshalb investieren Frauen so viel Zeit ins Muttersein?  Und warum erschwert manche Mama durch ihr Verhalten den väterlichen Einsatz in Kinderpflege und Erziehung? Weil der Mama-Mythos keine individuelle Angelegenheit ist, sondern ein kulturelles Mandat und als solches eine wesentliche Ursache dafür, dass so viele Frauen den Normen des überdimensionierten Mama-Ideals folgen. Deshalb ist es unfair, dieses Phänomen lediglich als etwas Privates abzutun. Es ist ein Konstrukt, das von Gesellschaft, Familienpolitik und Medien auf Frauen übertragen worden ist und in Erziehung und Sozialisation der heranwachsenden Generation seinen Ausdruck findet.

Der Mama-Mythos ist ein wichtiger Grund, weshalb Machtfragen zwischen den Geschlechtern nicht gelöst und Frauen gegenüber Männern sozial, politisch und ökonomisch benachteiligt sind. Wenn von Wirtschaft und Politik beklagt wird, Frauen würden ihr Berufspotenzial nicht ausschöpfen und Männer trotz viel Gleichstellungsarbeit die Nase weiterhin vorne haben, liegt dies nicht lediglich daran, dass Frauen zu zurückhaltend sind, sondern genauso an der Achillesferse des Mama-Ideals und dem oft damit verbundenen urmütterlichen Gefühl, alles Erdenkliche für Familie und Kinder tun zu müssen. Diesem Ideal zu widerstehen braucht viel Selbstbewusstsein.

Weil der Mama-Mythos für eine Rückkehr in vergangene Zeiten steht, muss er zur Debatte gestellt werden. Allerdings wäre es falsch, Frauen einfach zur Selbsttherapie aufzurufen und ihnen ans Herz zu legen, die Mutterschaft doch etwas gelassener zu nehmen. Angesprochen sind eher Familienpolitik, Ärztinnen und Ärzte, Expertinnen und -experten der Beratung und der Eltern- und Familienarbeit, welche die Entwicklung eines realistischeren Mutterbildes mit ihrer Fachexpertise unterstützen können. Weil sie Mütter begleiten, ihnen die physischen und entwicklungspsychologischen Meilensteine sowie die Möglichkeiten zur Gesundheitsprävention und Förderung der Kinder näherbringen, sind sie wichtige Instanzen – gerade auch für Frauen, die besonders gute Mütter sein wollen. Deshalb können sie diese Frauen so unterstützen, damit sie dem Kind gegenüber unbeschwerter werden, sich nicht für sein Aufwachsen allein verantwortlich fühlen und auch bereit werden, Einiges aus der Hand zu geben, was sie als ihre urmütterliche Pflicht verstehen. Bemerkungen wie «Sie sollten sich mehr Zeit nehmen und weniger gestresst sein» sind kontraproduktiv, weil sie die Orientierung am Mama-Ideal weiter anheizen.

Die Krise als Weckruf

Genauso sollten sich Frauen hinterfragen, inwiefern sie mit ihrem Verhalten dazu beitragen. Auch diese selbstkritische Perspektive braucht es, damit der Mama-Mythos mit seinen überdimensionierten Anforderungen öffentlich und gesellschaftspolitisch wahrgenommen wird und die «gute Mutter» neu konstruiert werden kann. Die neueste Legitimation für diese Forderung ist die Verstärkung des Mama-Mythos in der Corona-Krise. Während des durch den Lockdown bedingten Home-Office haben viele Mütter noch häufiger als vorher die Verantwortung für den Home-Bereich übernommen und im Office-Bereich zurückgesteckt. Dass sich so viele Frauen in die Pflicht haben nehmen lassen ist ein Zeichen dafür, dass sogar in der Corona-Krise der Ruf nach einem Aufbruch steckt. Wenn Frauen sich von der Vorstellung befreien könnten, nicht mehr immer und überall die Hauptverantwortung übernehmen zu müssen, wäre dies ein wichtiger Schritt in Richtung Geschlechtergerechtigkeit – sowohl für Mütter als auch Väter.