erschienen in: Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz, 17.05.2016, 20.

 

Vor einiger Zeit war ich mit anderen Experten zu Gast in der Fernsehsendung «Club» zum Thema «Kinder bestrafen – aber wie?» Das Hauptthema war die Frage, ob die Körperstrafe abgeschafft werden sollte oder ob ein Klaps zur richtigen Zeit eben doch eine gute erzieherische Massnahme sei. Wir waren uns zwar einig, dass die körperliche Strafe in die unterste Schublade erzieherischer Massnahmen gehört, aber darüber hinaus blieb unsere Diskussion eher einseitig.

Ich habe dies bedauert. Strafen sind in ihrer Form ein weites Feld, trotzdem haben wir meist nur die Körperstrafe im Visier. Dies zeigt sich auch in einem nationalrätlichen Vorstoss, der ein Verbot des Züchtigungsrechts fordert und im «No Hitting Day» des Kinderschutzes Schweiz vom vergangenen 29. April. Auch der UNO-Kinderrechtsausschuss ist kürzlich mit der Schweiz hart ins Gericht gegangen: Wir sollten das Ohrfeigen-Verbot endlich ins Gesetz aufnehmen.

Grundsätzlich ist dieser Forderung zuzustimmen. Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Sie ist eine wichtige Grundbedingung für ein gesundes Aufwachsen. Nur, wie soll man dies handhaben? Denn in vielen Untersuchungen zeigt sich zusammenfassend folgendes Bild: 80% der Eltern lehnen die Körperstrafe zwar ab, doch 70% praktizieren sie in leichter Form (als Klaps auf den Hintern) dennoch. Würden somit Väter und Mütter mit diesem Verbot nicht kriminalisiert?

Das Hauptproblem ist aber ein anderes: Körperstrafe ist nur die eine Seite der Medaille, die andere ist der Liebensentzug. Er ist nicht nur die wirksamste und schärfste Form von Strafe, sondern er hat auch in den letzten Jahren markant zugenommen. Mütter neigen stärker zu Liebesentzug, Väter eher zu Körperstrafen und Verboten.

Liebesentzug ist genauso schlimm wie ein Klaps auf den Hintern. Dazu gehören folgende Strategien: Desinteresse am Kind signalisieren, abwertende Bemerkungen machen (wenn es den Erwartungen nicht entspricht oder nicht das in der Schule leistet, was sich Mama und Papa wünschen), Schuld zuweisen (was man alles fürs Kind getan hat und es dafür nicht dankbar ist), seine Präsenz ignorieren (keinen Blickkontakt, keine Antworten). Dazu kommen neuere Formen von Liebesentzug, etwa, wenn Kinder jeden Abend vom Babysitter zu Bett gebracht werden, weil die Eltern so viel arbeiten oder wenn kranke Kinder alleine zu Hause bleiben müssen.

Liebesentzug gehört zu den psychologischen Kontrollstrafen. Sie haben ein grosses Gefahrenpotenzial, das massiv unterschätzt wird. Liebesentzug beschädigt das Selbstwertgefühl des Kindes, weil ihm durch Strafe sein Ungenügen vor Augen geführt wird, psychisch, intellektuell oder sozial.

Weshalb sind solche Kontrollstrafen derart verbreitet? Weil in den letzten dreissig Jahren die psychologische Bedeutung des Kindes stark zugenommen, Macht und Autorität der Eltern jedoch weggefallen oder zumindest stark erodiert sind. Autorität gehört heute nicht nur zu den «bösen» Wörtern, sondern sie wird unhinterfragt mit Körperstrafe verbunden. Deshalb versuchen Eltern, beides zu vermeiden und die Kinder partnerschaftlich zu erziehen – allerdings oft unter Zuhilfenahme von Praktiken des Liebesentzugs. Er ist somit in erster Linie eine Folge veränderter Erziehungspraktiken und der Diskreditierung von Körperstrafen.

Die politische Diskussion um die Körperstrafe ist zwar eine wichtige, doch wischt sie die Kosten des Liebesentzugs viel zu sehr weg. Welches wäre ein Ausweg aus diesem Dilemma? Ich sehe zwei mögliche Ansätze: Zunächst einmal, dass überhaupt über den Zusammenhang von Körperstrafe und Liebesentzug gesprochen wird. Die Praktiken des Liebesentzugs belasten Eltern in der Regel enorm, obwohl sie diese oft genauso vertuschen wie die Körperstrafe. Zudem braucht es eine Diskussion über «produktive Aggressivität» in der Familie. Eltern sollten erkennen, dass sie ein gewisses Mass an Aggressivität leben dürfen, weil dieses zum Miteinander und zum Familienleben gehört. Aufgrund des Trends vieler Erziehungsratgeber zur ausschliesslich liebevollen Erziehung ist diese Tatsache untergegangen und hat viele Eltern hilflos gemacht. Das alte Sprichwort «Wer nicht hören will, muss fühlen» sollte deshalb in eine zeitgemässe Form gewaltfreier Erziehung überführt werden.