Eine bedeutende Tageszeitung hat kürzlich über einen bemerkenswerten Aufstieg eines Managers berichtet. Ich hätte diesen Bericht glatt übersehen, wäre mir nicht sein Name ins Auge gestochen. Er war nämlich Ende der 1970er Jahre einmal zu mir in die Schule gegangen. Was jedoch vor allem meine Aufmerksamkeit erregte war meine Erinnerung, dass er ein schlechter Schüler gewesen war und sogar einmal eine Klasse repetieren musste.

Aus heutiger Sicht und auf der Basis meiner Forschung weiss ich, dass dieser Manager kein Einzelfall ist. In der Tat ist es so, dass eine ganze Anzahl von Untersuchungen zu den Lebenswegen von einfluss- und erfolgreichen Menschen zeigt, dass viele von ihnen sehr durchschnittliche oder gar schlechte Schüler waren.

Leider jedoch bleiben nicht wenige an sich begabte Schüler auf der Strecke. Die Anzahl Personen, die in der Schule offenbar nichts «zu bieten» hatten, ist viel grösser als wir annehmen. Zudem kommen viele von ihnen aus bescheidenen Verhältnissen.

Unser Schulsystem ist nach wie vor sehr einseitig. Schülerinnen und Schüler werden vor allem auf der Basis von zwei Fähigkeiten getestet, benotet und klassifiziert: auf der Fähigkeit, auswendig zu lernen und den Stoff wiedergeben zu können sowie – zu einem geringeren Anteil – auf der Fähigkeit zu analysieren. Diejenigen Schüler, welche in diesen Bereichen «gut» sind, werden als gescheit und clever, diejenigen, welche schwächer sind, als durchschnittlich oder gar als dumm beurteilt.

Viele Schüler aus gut situierten Familien können solche Fähigkeiten zu Hause trainieren und bekommen von den Eltern Unterstützung. Für Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien trifft dies oft nicht zu. Häufig jedoch verfügen gerade sie über andere Fähigkeiten. Dazu gehören Kreativität, praktische Intelligenz und ihre wichtigste Komponente: die Intuition. Weil solche Fähigkeiten für den Schulerfolg kaum zählen oder wertgeschätzt werden, bleiben sie unerkannt und unbeachtet. Deshalb werden Schüler mit genau solchen Fähigkeiten oft zu Verlierern. Schlimmer noch ist die Folge davon: Sie verlieren das Interesse am Lernen und entwickeln mit jedem Schuljahr eine grössere Schuldistanz.

Paradoxerweise sind es aber genau diese Fähigkeiten, welche für den Berufs- und Lebenserfolg besonders wichtig sind. Auf dem heutigen Arbeitsmarkt ist erfolgreich, wer flexibel ist, kreativ Probleme lösen und intuitive Entscheide fällen kann. Es erstaunt deshalb nicht, weshalb ein nicht kleiner Teil derjenigen Jugendlichen, die in der Schule als 'gescheit' gegolten haben, nach Matura und Studium im Beruf scheitern. Hauptgrund: Sie können das erworbene Schulwissen nicht anwenden.

Damit will ich keinesfalls behaupten, dass Auswendiglernen oder der Erwerb analytischer Fähigkeiten nicht wichtig sind. Schüler müssen die festgeschriebenen Minimalstandards erreichen und fähig sein, Dinge analysieren und kritisch denken zu können. Aber die Bedeutung dieser Fähigkeiten wird überbewertet und zu einseitig betont, so dass die anderen wichtigen Fähigkeiten aus dem Blick geraten sind. Das in den Schulen vorherrschende Intelligenzkonzept trägt zur Vergeudung von Talent bei. Zu vielen jungen Menschen mit praktischen Begabungen und kreativen Potenzialen werden Chancen verbaut, weil sie nicht in dieses Schema passen. Wie könnte man dies ändern? Sicher nicht mittels einer Bildungsreform oder einem Schulversuch, sondern ganz simpel: Je mehr Lehrkräfte beginnen, auf der Basis eines breiteren Intelligenzverständnisses zu unterrichten und zu bewerten, desto mehr werden sie gute Schülerinnen und Schüler entdecken. Und es werden auch solche sein, die aus sehr einfachen Verhältnissen stammen, aus anderen Kulturen oder gar solche mit Lernschwierigkeiten. Jeder Lehrer und jede Lehrerin kann auf eine einfache Weise einen Betrag dazu leisten, dass aus «dummen» Schülern «gescheitere» werden.