Leistungsdruck

Brauchen wir eine höhere Gymi-Quote?

Das ist der Originalbeitrag, der vom Blick redigiert erschienen ist am 24.03.2024


Zu wenig Einheimische besuchen das Gymnasium und machen eine Matura. Eine Folge davon ist der Fachkräftemangel und die hohe Anzahl von Ausländerinnen und Ausländern mit Hochschulabschluss, die jährlich importiert werden müssen. Um dem entgegenzutreten, muss die Gymnasialquote erhöht werden. Das genügt aber noch nicht. Es braucht auch finanzielle Anreize, damit endlich genug junge Menschen MINT-Studienfächer wählen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik).

Mehr praktisch Begabte oder mehr kopflastige Gymeler?

Solche Forderungen sind nicht neu, aber in diesen Tagen wieder besonders aktuell. Allein im Kanton Zürich haben 9000 Kinder und Jugendliche an den Gymiprüfungen teilgenommen, aber nur etwa die Hälfte wird es schaffen. Gerade für Eltern, deren Kind nicht dazu gehört, es aber unbedingt in dieser Kaderschmiede sehen möchten, ist das bitter. Sie wünschen sich verständlicherweise eine höhere Aufnahmequote.

Dagegen gibt es immer wieder heftigen Widerstand. Man solle nicht noch mehr «kopflastige» Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ausbilden, sondern mehr praktisch Begabte, heisst es. Das Ziel müsse die Stärkung der Berufsbildung sein. Diese Diskussion ist zwar wichtig, doch zu oft werden Gymnasien und Berufsbildung gegeneinander ausgespielt. Zudem bleibt sie oft auf einer behauptenden Ebene stecken. Das betrifft manche Aussage zur Erhöhung der Gymi-Quote oder zur Überzeugung, mit finanziellen Anreizen könne das MINT-Problem gelöst werden. Überhaupt nicht in den Blick genommen wird die Frage, wer denn die «Geeignetsten» fürs Gymnasium respektive für eine Berufslehre wären.

Wir haben nicht zu wenig Gymeler, sondern zu viele, die aussteigen

Erstens haben wir nicht zu wenig Gymeler, sondern zu viele, die wieder aussteigen. Das ist zwar in der beruflichen Grundbildung ähnlich, aber darum geht es hier nicht.

Nur etwa die Hälfte derjenigen, die ins Langzeitgymnasium übertreten, erwerben einen universitären Bachelor-Abschluss. 14 Prozent schliessen das Gymi gar nicht ab, und 25 Prozent studieren nie an einer Universität. Zehn Prozent verlassen sie vor dem Abschluss. 15 Prozent landen nachher in einem Beruf, für den es gar keinen Universitätsabschluss braucht. Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass sich der Arbeitsmarkt verändert hat. Heute sind Fachkräfte mit einer höheren Berufsbildung – also Absolvierende einer höheren Fachschule, einer Berufsprüfung oder höheren Fachprüfung – genauso nachgefragt wie solche von Universitäten. Dies ist das Ergebnis einer Studie der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung.

Zweitens fehlen junge Menschen in MINT-Studiengängen nach wie vor. Offenbar gelingt es nicht, sie in die Studienrichtungen zu kanalisieren, die wirklich vom Fachkräftemangel betroffen sind. Dies gilt insbesondere für Frauen, die in diesem Bereich trotz vielen Förderprojekten unterrepräsentiert sind. Mehr denn je werden heute Sozial- und Geisteswissenschaften gewählt. Eine Folge davon ist laut Hochschulabsolventenbefragung, dass durchschnittlich 48 Prozent ein Jahr nach Studienabschluss keine feste Anstellung haben. Bei den Fachhochschulen sind es nur 14 Prozent. Vor allem aber fehlt es an Fachleuten mit Berufslehre, mit oder ohne anschliessenden Weiterbildungen und Spezialisierungen auf der Tertiärstufe: Pflegefachpersonal, Elektromonteure, Software-Entwickler, Schreiner, Köche, Gärtner, Polymechaniker.

Wer sind die Geeignetsten fürs Gymi respektive die Berufslehre?

Lediglich mit einer Erhöhung der Gymnasialquote lassen sich anstehende Probleme kaum lösen. Denn es gibt einen dritten Punkt, der kaum diskutiert wird. Wie sorgt unsere Bildungspolitik dafür, dass nicht lediglich mehr das Gymnasium besuchen, sondern die «Begabten» und Gleiches auch für die Berufslehre gilt? Es gibt zu denken, dass die Berufsbildung vor allem von Jugendlichen aus nicht-akademischen Elternhäusern in Anspruch genommen wird, während Gymnasien in erster Linie von solchen aus akademisch gebildeten Familien besucht werden. Das ist kein zukunftsträchtiger Zustand.

Heranwachsende sind nicht nach Belieben form- und schleifbar

Unsere Gesellschaft unterliegt einem Trugschluss. Heranwachsende sind keine formbaren Tonklumpen. Sie können nicht beliebig geschliffen werden, damit aus ihnen Akademikerinnen und Akademiker werden. Obwohl die Anforderungen steigen und mehr Kopflastigkeit gefordert ist, dürfte die Erhöhung der gymnasialen Quote der falsche Weg sein. Der höchste Ausbildungsabschluss ist nicht per se der Beste. Eher sollten persönliche Interessen und Fähigkeiten den Ausschlag zur Berufswahl geben und nicht bildungspolitische Forderungen nach einer Erhöhung der Gymi-Quote oder die Wünsche der Eltern. Dann würden mehr leistungsstarke Jugendliche aus gut situierten Familien eine Berufslehre absolvieren und mehr intellektuell begabte Kinder aus Arbeiter- und benachteiligten Migrantenfamilien das Gymnasium. Berufsbildung und Gymnasien würden so eine gleichwertige Rolle spielen.

Bildung ist wichtiger denn je. Aber Forderungen nach einer Erhöhung der Gymi-Quote zur Reduktion des Fachkräftemangels interpretieren zu viel in sie hinein. Sie machen die Überzeugung schmackhaft, alle Probleme könnten so gelöst werden. Nein, mehr Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sind nicht das Mass der Dinge. Es ist an der Zeit, diese Fixpunkte unserer Akademisierungsgesellschaft zu hinterfragen. Viele Indizien sprechen dafür, dass «Soft Skills» grundlegend für den Ausbildungs- und Berufserfolg sind. Dazu gehören Selbstbewusstsein, Hartnäckigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Frustrationstoleranz – also die Fähigkeit, mit Misserfolgen umgehen zu können. Sie sind das Rüstzeug, um dem Leben mit Widerstandsfähigkeit und Erfolgszuversicht zu begegnen – und zwar jenseits einer Erhöhung der Gymiquote.


Auf das Berufsimage kommt es an: Über die schwier...
 

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