erschienen in Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 07.07.2025, 2.
Schule, Hausaufgaben, Förderunterricht, Sport, digitale Medien – der Alltag ist durchgetaktet. Kinder verbringen deshalb wenig Zeit draussen beim unbeschwerten Spielen. Die enorme Präsenz von Bildschirmen beschäftigt sie vor allem passiv, regt aber kaum zur Bewegung oder zum sozialen Austausch an.
Jetzt stehen die Sommerferien vor der Tür und damit viel Musse und wenig Pflichten. Das ist die ideale Auszeit, um solche Mängel auszugleichen. In dieser Zeit sollten Kinder nicht nur spielen dürfen, sondern spielen müssen – für ihre körperliche, soziale, kreative und emotionale Entwicklung.
Das Spielen ist optimales Lernen
Das Spielen ist weder Lückenfüller noch etwas Simples, wie immer wieder zu lesen ist. Nein, Spielen und Lernen gehören zusammen, so wie die beiden Flügel des Schmetterlings. Der eine Flügel verkörpert das Spiel, der andere das Lernen. Ohne die beiden Flügel wäre der Schmetterling nie frei zum Fliegen.
Kinder lernen beim Spielen für das Leben. Das ist nicht lediglich ein geflügeltes Wort, sondern eine Erkenntnis der Entwicklungspsychologie. Draussen herumzustromern stärkt den Körper, hilft Stress abzubauen und regt die Fantasie an. Aktivitäten im Freien fördern zudem Selbstständigkeit, Entscheidungsfähigkeit und soziale Kompetenzen. Wenn Kinder gemeinsam ohne Vorgaben ihre Zeit gestalten – beim Bauen, Toben, Verstecken oder Erfinden – entwickeln sie Fähigkeiten, die kaum eine Schulstunde vermitteln kann. Solches Lernen ist von unschätzbarem Wert. Das gilt auch langfristig. Erwachsene, die als Kind viel Zeit in der Natur mit Spielen verbrachten, verfügen über eine bessere körperliche und psychische Gesundheit sowie über ein höheres Selbstwertgefühl als solche, die in der Kindheit kaum Gelegenheit dazu hatten.
Heute spielen heute viel weniger, weil die Erwachsenen Angst haben
Doch die Empirie spricht eine andere Sprache. Das Spielen im Freien hat schlechte Karten. Es gibt deutlich weniger Spielmöglichkeiten, eine massive Einschränkung der Spielflächen und viele Verbote. Dies hat zur Folge, dass Kinder im Vergleich zur Generation ihrer Eltern und Grosseltern gut 30 Prozent weniger Zeit im Freien verbringen. Hinzu kommen überbehütende Erziehungsstile und Sicherheitsbedenken. Kinder gelten als permanent gefährdet, deshalb seien sie immer zu überwachen – so stehts in vielen Medien. Das verunsichert Eltern. Gemäss einer repräsentativen deutschen Studie lassen 56 Prozent der Eltern ihre Kindern nur auf dem eigenen Grundstück oder in der direkten Nachbarschaft unbeaufsichtigt spielen. Die Hälfte hat schon ein mulmiges Gefühl, sobald ihr Kind allein draußen ist, und jedes zehnte Elternpaar lässt es grundsätzlich nicht unbeaufsichtigt nach draussen. Doch solche Ängste sind kaum angebracht. Das Leben von Kindern ist noch nie so sicher gewesen wie heute.
Was Kinder brauchen: einen sicheren Hafen (Wurzeln), aber auch Freiheiten (Flügel)
Man sollte den Eltern keine Vorwürfe machen. Die meisten wollen das Beste für den Nachwuchs und beschützen ihn deshalb so gut wie möglich. Betrachtet man allerdings die Entwicklung vom Kind her, ist das, was das Beste sein soll, eine Frage der Balance. Einerseits brauchen Kinder Fürsorge und Nähe, also Wurzeln und einen sicheren Hafen – andererseits aber auch Möglichkeiten, die Welt zu entdecken, also Freiheiten und Flügel. Aktuell ist diese Balance durcheinander, sie war es aber auch schon früher.
In autoritären Zeiten wurden viele Kinder erzogen, indem man ihnen Angst einjagte und Strafen einsetzte. Entsprechend schwach waren ihre Wurzeln. Gleichzeitig hatten sie viele Freiheiten, mit anderen Kindern herumzutollen. Heute ist es oft umgekehrt: Die Kinder werden achtsam und bedürfnisorientiert erzogen, damit sie Wurzeln bekommen. Aber wegen der Sicherheitsangst können sie ihre Flügel selten entfalten. Das ist wieder ein Ungleichgewicht. Doch sie brauchen beides, viel vom einen, viel vom anderen.
Gemeinde- und Stadtverwaltung müssen mehr Flügelräume für den Nachwuchs schaffen
Kinder, denen man auch Freiheiten draussen ermöglicht, bekommen Flügelräume. Verantwortlich dafür sind aber nicht nur Mama und Papa, sondern ebenso eine Gemeinde- und Stadtentwicklung, die nicht nur die Kinder vor Gefahren schützt, sondern auch mehr Flügelräume schafft. Das Spielen ist der Beruf des Kindes. Das sollte für die Sommerferien ganz besonders gelten. Wie Recht hatte Georg Bernard Shaw mit seiner Aussage: «Das unterhaltsamste Spielzeug eines Kindes ist ein anderes Kind».
Siehe auch mein Podcast «Education to go» auf margrit.stamm@ch sowie auf allen gängigen Podcast-Portalen.