Es ist absurd: Das Schweizer Berufsbildungssystem gilt international als vorbildlich, und es wird mittlerweile in zahlreichen Ländern weltweit nachgeahmt, nicht zuletzt auch deshalb, weil bei uns die Jugendarbeitslosigkeit nur 3.5% beträgt. Trotzdem gehen ihm die Lehrlinge aus. Das hängt unter anderem sowohl mit dem demografisch bedingten Rückgang der Schulabgängerzahlen als auch mit dem erfreulich hohen Nachwuchskräftebedarf der Wirtschaft zusammen. Vor allem aber ist der Lehrlingsmangel eine Folge des Hypes um die Akademisierung der Ausbildungsberufe. Heute gilt der akademische Weg übers Gymnasium zur Matura und zur Universität als ‚comme il faut', während die Berufsbildung grosse Mühe hat, Eltern – besonders viele ausländischer Herkunft – von den Vorzügen dieses dualen Ausbildungsmodells zu überzeugen. Das zeigt eine Studie von Stefan Wolter, Leiter der Forschungsstelle für Bildungsökonomie an der Universität Bern. Er hat die Berufspläne von Jugendlichen mit gleichen Schulleistungen und gleichen sozialen Milieus verglichen. Dabei zeigte sich, dass im Vergleich zu einheimischen Jugendlichen 40% weniger Jugendliche der ersten Ausländergeneration eine Berufslehre absolvieren, jedoch 30% mehr ein Gymnasium oder eine Fachmittelschule besuchen wollen.

Eine Folge davon ist, dass alle Vollzeitschulen, insbesondere Gymnasien, so beliebt wie nie zuvor sind und sich auch die Universitäten über einen Mangel an Nachfrage nicht beklagen können. Für die Betriebe sind damit gravierende Folgen verbunden: Weil die Lehrlinge, welche sie sich eigentlich wünschen würden, einen akademischen Weg einschlagen und deshalb nicht zur Verfügung stehen, müssen sie entweder ihre Ansprüche senken, geeignete Jugendliche zunehmend im Ausland suchen oder dann Ausbildungsplätze unbesetzt lassen.

Dass ein wachsender Anteil der jungen Menschen eine höhere Bildung hat, ist zwar alles andere als negativ. Immer besser ausgebildete Berufsleute sind im Hinblick auf die internationale Anschlussfähigkeit ein Muss. Aber die Akademisierung nimmt Ausmasse an, die über das Ziel hinausschiessen. Auch wenn es heute für immer mehr Berufsausbildungen eine Matura braucht und viele internationale Unternehmen nur noch Leute mit einem Hochschulabschluss einstellen wollen, dann führt dieses "Upgrading" noch lange nicht dazu, dass alle reif für ein Studium sind, das diesen Namen verdient.

Eines der Hauptprobleme ist meines Erachtens, dass ein Grossteil der Studierenden an Universitäten nicht so sehr nach Wissenschaft strebt, sondern vor allem nach einem Abschluss, der die Arbeitsmarktchancen erhöht. Diese Strategie ist selbstverständlich nicht verwerflich, doch fragt sich, ob die Universität der geeignete Lernort für junge Menschen ist, die an Wissenschaft gar nicht interessiert sind.

Kurz- und mittelfristig braucht es somit eine Kurskorrektur. Damit Karrieremöglichkeiten auch in der Berufsbildung angestrebt werden, sind meine Erachtens zwei Strategien von erster Priorität: Erstens muss die Berufsorientierung umfassender und früher einsetzen. Sowohl ausländische als auch einheimische Eltern sind viel zu wenig gut informiert, dass das Schweizer Bildungswesen absolut durchlässig ist und eine Berufslehre über die Berufsmaturität in ein Studium an einer Fachhochschule oder unter bestimmten Bedingungen auch an einer Universität münden kann. Damit verbunden ist zweitens, dass expliziter – unter anderem auch von den Berufsberatungsstellen – aufgezeigt werden müsste, dass der akademische Weg ein insgesamt unsicherer ist. Eltern, die ihr Kind im Entscheid, eine Berufslehre zu absolvieren, unterstützen, können ihm beispielsweise ersparen, das gleiche Schicksal wie die 10% Maturanden zu erleiden, die in der Schweiz gar nie ein Studium beginnen oder wie die 25% Studierenden, welche die Universität ohne Abschluss verlassen.

Nicht zuletzt kommt in solchen Daten die Fehllenkung unserer Bildungsströme hin zur Universität überdeutlich zum Ausdruck. Aus diesem Blickwinkel betrachtet schadet der Hype um die Akademisierung  nicht nur denjenigen, die am universitären System selbst scheitern, sondern auch unserer Volkswirtschaft und insbesondere der Berufsbildung und dem Handwerk.