Leistungsdruck

Versagensängste der Tüchtigen

erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 13.02.2024, 2.


Sie haben einiges erreicht. Auf der Karriereleiter geht es nach oben. Und doch ist da das Gefühl, der eigene Erfolg sei nicht das Ergebnis angestrengter Arbeit, sondern eine Täuschung. «Ich war mir nie sicher, ob ich es verdiene, vorne zu sein» sagte Cyprien Sarrazin nach seinem Abfahrtssieg auf der Streif – der grösste Konkurrent von Marco Odermatt! Sarrazin ist keineswegs ein blutiger Anfänger, sondern ein professioneller Mensch mit Erfahrung. In der Forschung gibt es dafür einen eigenartigen Namen: das Hochstapler-Phänomen – also mehr Schein als Sein. Etwa die Hälfte erfolgreicher Personen dürfte ansatzweise davon betroffen sein.

Mehr Erfolg - mehr Versagensängste

Gelegentliche Selbstzweifel kennen fast alle. Doch das Hochstapler-Phänomen ist sowohl tragisch als auch paradox. Tragisch, weil es mit einem allzu kritischen Selbstbild einhergeht. Solche Menschen sind überzeugt, alles, was sie bisher erreicht haben, sei nur dem Zufall geschuldet. Paradox ist, dass Selbstzweifel erschweren, sich über Erfolge richtig freuen oder Komplimente annehmen zu können. Die Versagensängste nehmen sogar zu, je erfolgreicher sie sind.

Auch im Ausbildungs- und Berufsalltag äussert sich dies, jedoch unterschiedlich. Entweder durch überperformen oder nicht performen. Typisch für Überperformer ist, dass sie sich auf Herausforderungen akribisch vorbereiten, exzellente Arbeit leisten, aber irgendwie nie wirklich zufrieden mit der Leistung sind. Nicht-Performer vermeiden Herausforderungen, schieben Aufgaben auf, sagen Termine ab und versuchen, sich aus der Verantwortung zu schleichen.

Selbstzweifel entstehen meist in der Kindheit

Für beide Typen ist der Entlastungseffekt nur von kurzer Dauer. Wer zu überperformenden Maximalleistungen neigt, hat bei jedem weiteren Erfolg Angst, das Niveau nicht halten zu können. Anders, wer den Weg der Vermeidung wählt. Solche Menschen sind erstmal froh, wenn sie etwas aufschieben konnten. Nur ist damit die Aufgabe nicht gelöst, die Versagensangst bleibt. Denn Über- und Nichtperformer haben eine Gemeinsamkeit: die Überzeugung, zu wenig zu können und andere zu täuschen.

Woher kommt das Hochstapler-Phänomen? Die Forschung ist sich einig, dass die Prägung in der Kindheit eine grosse Rolle spielt. Dazu gehören gutgemeinte Erziehungsgrundsätze wie «Gib immer dein Bestes!» oder «Im Leben musst du dich anstrengen!». Meist denken Eltern, ihre Kinder so optimal zu fördern. Doch beim Nachwuchs kann dadurch der Irrglaube entstehen, nie gut genug zu sein. Der eigene Selbstwert wird dann ungünstig an ein Ziel geknüpft, das nur mit höchster Leistung erreichbar ist.

Männer: Forsches Auftreten, um Selbstzweifel zu verbergen

Sind Versagensängste ein eher weibliches Gefühl? In der Tendenz ja, aber nicht eindeutig. Auch erfolgreiche Männer kennen das Gefühl eigener Unsicherheit. Doch im Vergleich zu Frauen gehen sie meist anders damit um. Das dürfte auch an der Sozialisation liegen. Oft verdecken Männer ein kritisches Selbstbild mit forschem Auftreten. Frauen hingegen, die zu Sozialverträglichkeit erzogen worden sind, streben eher perfektionistische Bestleistungen an. Doch diese betrachten sie sehr selbstkritisch. Deshalb ist das weibliche Geschlecht wahrscheinlich anfälliger für das Hochstapler-Phänomen.

Selbsthilfe ist am effektivsten

Was könnte getan werden? Neben professioneller therapeutischer Hilfe, die langfristig an die Wurzeln des Problems geht, ist es am effektivsten, dieses zu erkennen. Für viele Betroffene reicht es aus, Selbsthilfemassnahmen umzusetzen. Beispielsweise, die Erfolge schriftlich festzuhalten und sich einen guten, unterstützenden Freundeskreis aufzubauen, mit dem die Themen Selbstwert und Selbstwertstärkung angesprochen werden können.

Es gibt auch eine gute Nachricht. Oft schwächt sich das Phänomen mit zunehmendem Alter ab. Auch wenn sich dann das kritische Selbstwertgefühl mit einiger Regelmässigkeit doch wieder meldet, weiss man meist besser, wie damit umzugehen ist. 

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