Von Margrit Stamm auf Sonntag, 28. Februar 2016
Kategorie: Blog

Ich will - und zwar sofort! Mangelnde emotionale Kompetenzen im Vorschulalter und ihre Folgen

Viele Vorschulkinder können heute mehr als noch vor zwanzig Jahren. Beispielsweise schon Sätzchen lesen, bis auf 100 zählen, Geige spielen oder sich auf Englisch unterhalten. Dies nicht etwa deshalb, weil sie generell gescheiter geworden sind, sondern, weil sie früher und intensiver gefördert werden. Frühförderung ist in. Die Vielfalt an Angeboten ist riesig, die Nachfrage auch.

Allerdings sind nicht wenige dieser Kinder emotional retardiert. Sie können kaum warten, bis sie etwas bekommen. Ist dies nicht der Fall, reagieren sie mit Wutausbrüchen. Tisch decken oder Hamster füttern? Darauf haben sie keine Lust. Mit Kritik der Kindergärtnerin kommen sie schlecht zurecht, und Misserfolge können sie kaum ertragen. Solches Verhalten gehört zwar im Kleinkindalter noch zum normalen Entwicklungsprozess. Doch sollte ein vier- bis fünfjähriges Kind ein gewisses Mass an Bewältigungsverhalten erworben haben und seine Gefühle teilweise kontrollieren können.

Emotionale Kompetenz gilt als ein wichtiger Schutzfaktor für die kindliche Entwicklung. Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass zwischen mangelndern emotionalern Fähigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten ein eindeutiger Zusammenhang besteht. Vor diesem Hintergrund sind auch die Medienberichte zu lesen – beispielsweise in der NZZ am Sonntag, 21. Februar 2016 von René Donzé – über die Zunahme der Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindergärtlern.

Weshalb ist dem so? Dahinter stecken viele Ursachen, doch dürften zwei besonders wichtig sein:

Dieser Trend ist fatal. Denn die Forschung belegt mit grosser Eindeutigkeit, dass Schul-, Berufs- und Lebenserfolg nicht primär von einem hohen Intelligenzquotienten und vielen Frühförderkursen abhängt, sondern ebenso vom Ausmass der emotionalen Kompetenz. Der Umgang mit den eigenen Gefühlen, die Fähigkeit sich selbst beherrschen zu lernen, mit Konflikten umzugehen – also all das, was wir als «Frustrationstoleranz» bezeichnen – sind ganz wesentliche Einflussfaktoren, die sich auf den schulischen Erfolg eines Kindes auswirken und seinen Lebensweg vielfältig beeinflussen. Deshalb schneiden Kinder, die früh schon lernen, Bedürfnisse aufzuschieben, Gefühle zu kontrollieren, Enttäuschungen zu ertragen und Hindernisse zu überwinden, in der Schule besser ab und sind auch später lebenserfolgreicher.

Die frühe Förderung emotionaler Kompetenzen ist somit genauso wichtig wie die Förderung schulnaher Fähigkeiten. Leider ist diese empirisch vielfach belegte Tatsache bislang stark vernachlässigt worden. Zwar wird die emotionale Entwicklung in vielen Erziehungsratgebern, Bildungs- und Lehrplänen erwähnt. Doch bleiben die Aussagen oft zu allgemein, zu plakativ und stellen zu einseitig das Kind und seine Bedürfnisse ins Zentrum. Die Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen fordert dem Kind aber immer auch etwas von den Eltern und seinen Bezugspersonen ab, nämlich zu lernen, die eigenen Bedürfnisse zu kontrollieren.

Es ist an der Zeit, dass wir uns von der Kultur verabschieden, Frühförderung und Schulleistungen isoliert und ohne Bezug zu Verhaltensauffälligkeiten zu diskutieren. Die Förderung emotionaler Kompetenzen, welche auch die Basis für die soziale Entwicklung darstellt, ist nicht nur eine Grundbedingung für den Wissenserwerb, sondern ebenso für das gesunde Aufwachsen des Nachwuchses. Eltern und pädagogische Fachkräfte, welche die emotionale Entwicklung aktiv lenken, machen dem Kind ein grosses Geschenk. Sie schützen es vor Verhaltensauffälligkeiten und machen es fit für die Schule und das Leben.

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