Von Margrit Stamm auf Samstag, 27. September 2025
Kategorie: Blog

Belastete Mädchen – coole Knaben? Zwischen psychischen Krisen und Gamesucht

erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 29.09.2025, 2.

Mädchen sind in der Schule erfolgreicher als Knaben – darauf verweisen Studien seit Jahren. Doch seit der Pandemie zeichnet sich ein Wandel ab: Während Mädchen nach wie vor bessere Leistungen zeigen, nehmen ihre psychische Belastungen deutlich zu. Knaben wirken oft gelassener und lässiger, auch wenn hinter der vermeintlichen Coolness Risiken lauern.

Doch diese Aussage ist zu generalisierend. Nicht alle Mädchen sind belastet, nicht alle Knaben sind locker drauf. Die Unterschiede innerhalb der Geschlechter sind grösser als zwischen ihnen. Doch empirische Daten machen nachdenklich. Die Zahl psychischer Erkrankungen ist bei Mädchen in den vergangenen Jahren um 26 Prozent gestiegen, bei Knaben lediglich um sechs Prozent.

Welche Rolle spielen Gene, welche Erziehung und Sozialisation?

Was steckt hinter dem Phänomen? Ist es das Naturgesetz, das wir bisher übersehen haben? Oder ist es das Ergebnis von Erziehung und Sozialisation, auch von Social Media?

Einerseits spielen biologische Faktoren eine Rolle, wie Temperament, Persönlichkeit und Sensibilität. Knaben haben von Geburt an Vorteile im räumlichen Denken, sind aber auch verletzlicher («vulnerabler»). Mädchen können ihre Emotionen etwas besser regulieren und haben wegen ihrer schnelleren Gehirnentwicklung einen Reifevorsprung. Entscheidend ist jedoch das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt. Da die Gene nicht beeinflussbar sind, stellt sich die Frage, was unsere Gesellschaft aus solchen Unterschieden macht.

Social Media verstärkt Geschlechtsstereotypen

Eltern und Schule vermitteln Mädchen oft, fleissig, zuverlässig und angepasst zu sein. Das wirkt. Schon früh wollen manche von ihnen alles richtig machen: Die Hausaufgaben machen sie pünktlich, sie sind strukturiert und können selbstorganisiert lernen. Doch wenn etwas nicht gelingt, kann das zu Stress führen. Selbstzweifel kommen dann gratis dazu.

Knaben geniessen häufig einen Sympathiebonus für Nachlässigkeit. Vergessene Hausaufgaben oder Unruhe im Unterricht werden als typisch abgetan. Das macht sie in der Peer Group zwar oft beliebt. Gleichzeitig nimmt ihnen dies die Chance, zu lernen, wie man sich organisiert und Selbstverantwortung übernimmt. Während Mädchen schon beim Übertritt in die Sek I wie kleine Projektmanagerinnen auftreten, lernen viele Knaben noch, pünktlich zu erscheinen.

Social Media verstärkt solche Geschlechtsstereotypien. Mädchen werden mit perfekten Lebensentwürfen, Schönheitsidealen und Erfolgsgeschichten konfrontiert, was ihre Belastung weiter steigert. Nicht wenige Knaben wirken hingegen unbeschwert. Doch hinter dieser Fassade steckt oft ein anderes Bild: Im Gegensatz zu Mädchen stundenlange Gaming-Sessions, schulische Probleme, Schlafmangel. 31 Prozent spielen täglich mehrere Stunden Online-Videogames, drei Prozent zeigen ein Suchtverhalten.

Die virtuelle Welt bietet Knaben klare Strukturen. Belohnungen sind vorhersehbar, Fehler lassen sich durch Wiederholung beheben. Im Gegensatz zur realen Welt – in der soziale Beziehungen, Anforderungen der Schule oder der Berufslehre frustrierend werden können – liefert das Gamen schnelle Erfolgserlebnisse. Es kann zu einem Ersatz werden, um den Selbstwert zu stabilisieren, ohne dass Verletzlichkeit gezeigt werden muss.

Mädchen und Knaben: Zwischen Belastungsdruck und lässiger Fassade

Das Bild von überlasteten Mädchen und scheinbar coolen Knaben wirft ein Schlaglicht auf problematische Erwartungen, denen Jugendliche heute begegnen. Während Mädchen mit einem kaum sichtbaren Belastungsdruck kämpfen, verstecken manche Knaben ihre inneren Konflikte hinter einer lässigen Fassade.

Das Phänomen beinhaltet dieselbe Ursache: Geschlechtsstereotypien. Noch immer bekommen junge Menschen vermittelt, wie ein Mädchen, wie ein Knabe zu sein hat – durch Social Media, Elternhäuser, Schule und Peer Groups. Solche Rollen engen ein.

Mädchen brauchen weniger Perfektionsdruck und mehr Ermutigung, sich selbst Grenzen zu setzen und Fehler machen zu dürfen. Knaben brauchen die Freiheit, Gefühle zu zeigen, Schwäche zuzulassen – ohne Angst, ihren Status zu verlieren.

Was tun? Ein wichtiges Ziel ist die präventive Beratung in der Eltern- und Familienarbeit, in Kindergärten und Schulen. Zudem müsste die Prävention zum Auftrag der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden.

Mein neuer Podcast zu diesem Thema

In meinem neuesten Podcast «Education to go», der Mitte Oktober erscheint, diskutiere ich das Thema mit Prof. Dagmar Pauli, Universitätsklinik Zürich für Kinder- und Jugendpsychiatrie. 

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