Von Margrit Stamm auf Montag, 25. Mai 2015
Kategorie: Blog

Stipendieninitiative: Mehr Gleichheit oder mehr Gerechtigkeit? Ein kritischer Blick auf die Abstimmung vom 14. Juni 2015

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser: Wenn Sie Aussagen aus meinen Blogs weiterverwenden, bitte ich Sie freundlich, die Quelle entsprechend zu zitieren. Besten Dank!

«Bildung ist Bürgerrecht». Diese Aussage stammt von Ralph Dahrendorf aus dem Jahr 1966. Sie ist so aktuell wie nie zuvor, vor allem auch wegen der bevorstehenden Volksabstimmung zur Stipendieninitiative am 14. Juni 2015. Diese Initiative bezweckt bekanntlich die Harmonisierung des Stipendienwesens in der Schweiz. Nur schon deshalb ist sie an sich eine gute Sache, aber man muss sie etwas differenziert in den Blick nehmen. Befürworter argumentieren mit vielen Slogans, beispielsweise mit «mehr Chancengerechtigkeit», mit einem «Beitrag gegen den Fachkräftemangel» oder auch mit der «Verkürzung der Ausbildungszeit und weniger Studienabbrechern», Gegner mit der «Beschneidung kantonaler Bildungshoheit», der «Schwächung des Bildungsraumes Schweiz» und der allgemeinen «Verakademisierung».

Als Forscherin und Wissenschaftlerin frage ich mich , was es mit solchen Slogans auf sich hat. Dabei interessiert mich ganz besonders die Frage nach der Gerechtigkeit. Deshalb stellen sich mir folgende Fragen (vgl. auch Rendez-vous am Mittag, 26. Mai 2015): http://bit.ly/1Q6lKBv

Grundsätzlich muss man unterscheiden zwischen Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit. Im Zuge der Abstimmungskampagne wird dies stark vernachlässigt. Chancengleichheit meint «Jedem das Gleiche», Chancengerechtigkeit «Jedem das Seine». Chancengleichheit bezweckt, dass jedes Kind und jede Person identische Zugangschancen zur Ausbildung hat. Anders die Chancengerechtigkeit. Sie hat zum Ziel, dass Kinder und Jugendliche eine ihren individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen angepasste Förderung zur Überwindung ihrer Nachteile bekommen. Davon wird leider im Abstimmungskampf kaum gesprochen. Ein Bildungssystem, das sich diesem Anspruch stellt, muss jedoch Kinder und Jugendliche ungleich behandeln. Die grösste Ungerechtigkeit ist deren Gleichbehandlung.

Können auf dieser Basis Stipendien überhaupt für Gleichbehandlung sorgen? Ja und nein:

So einfach ist das nicht. Um nicht nur Chancengleichheit, sondern eben auch Chancengerechtigkeit zu garantieren, braucht es viel mehr. Zwar ist die Stipendieninitiative ein grundsätzlich richtiger Weg. Aber sie müsste auch ganz andere «Achillesfersen» in den Blick nehmen. Denn:

Grundsätzlich ist die Richtung der Stipendieninitiative zu unterstützen. Aber sie ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Schweiz sollte sich im Vergleich zum europäischen Ausland endlich durchringen, ein wirkliches Zeichen für benachteiligte junge Menschen zu setzen – notabene jenseits der Frage, inwiefern es um einen Hochschulzugang oder um eine höhere Berufsbildung geht. Und hierfür müsste sie viel, viel früher ansetzen und nicht erst bei den Stipendien. Förderstiftungen wären hierfür besonders prädestiniert, so wie dies in Deutschland modellhaft geschieht.

Obwohl die Initiative mit ihren Versprechungen Mängel hat, ist sie ein wichtiges Zeichen auf dem Weg zur Herstellung von mehr Chancengerechtigkeit. Diese muss das Ziel einer Bildung sein, die sich als Bürgerrecht versteht.

Deswegen stimme ich ja.

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