Stipendieninitiative: Mehr Gleichheit oder mehr Gerechtigkeit? Ein kritischer Blick auf die Abstimmung vom 14. Juni 2015

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser: Wenn Sie Aussagen aus meinen Blogs weiterverwenden, bitte ich Sie freundlich, die Quelle entsprechend zu zitieren. Besten Dank!

 

 

«Bildung ist Bürgerrecht». Diese Aussage stammt von Ralph Dahrendorf aus dem Jahr 1966. Sie ist so aktuell wie nie zuvor, vor allem auch wegen der bevorstehenden Volksabstimmung zur Stipendieninitiative am 14. Juni 2015. Diese Initiative bezweckt bekanntlich die Harmonisierung des Stipendienwesens in der Schweiz. Nur schon deshalb ist sie an sich eine gute Sache, aber man muss sie etwas differenziert in den Blick nehmen. Befürworter argumentieren mit vielen Slogans, beispielsweise mit «mehr Chancengerechtigkeit», mit einem «Beitrag gegen den Fachkräftemangel» oder auch mit der «Verkürzung der Ausbildungszeit und weniger Studienabbrechern», Gegner mit der «Beschneidung kantonaler Bildungshoheit», der «Schwächung des Bildungsraumes Schweiz» und der allgemeinen «Verakademisierung».

Als Forscherin und Wissenschaftlerin frage ich mich , was es mit solchen Slogans auf sich hat. Dabei interessiert mich ganz besonders die Frage nach der Gerechtigkeit. Deshalb stellen sich mir folgende Fragen (vgl. auch Rendez-vous am Mittag, 26. Mai 2015): http://bit.ly/1Q6lKBv

  • Wie gross ist die Chancengerechtigkeit für Studierende mit unterschiedlicher sozialer Herkunft?

  • Können Stipendien überhaupt für mehr Gerechtigkeit sorgen?

Grundsätzlich muss man unterscheiden zwischen Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit. Im Zuge der Abstimmungskampagne wird dies stark vernachlässigt. Chancengleichheit meint «Jedem das Gleiche», Chancengerechtigkeit «Jedem das Seine». Chancengleichheit bezweckt, dass jedes Kind und jede Person identische Zugangschancen zur Ausbildung hat. Anders die Chancengerechtigkeit. Sie hat zum Ziel, dass Kinder und Jugendliche eine ihren individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen angepasste Förderung zur Überwindung ihrer Nachteile bekommen. Davon wird leider im Abstimmungskampf kaum gesprochen. Ein Bildungssystem, das sich diesem Anspruch stellt, muss jedoch Kinder und Jugendliche ungleich behandeln. Die grösste Ungerechtigkeit ist deren Gleichbehandlung.

Können auf dieser Basis Stipendien überhaupt für Gleichbehandlung sorgen? Ja und nein:

  • Ja, im Hinblick auf Fragen der Chancengleichheit: Es ist nicht zu rechtfertigen, dass Stipendien vom Wohnort der Familie, von ihren finanziellen Verhältnissen und von der sozialen und kulturellen Herkunft abhängen. Das ist unserem hoch entwickelten und teuren Bildungssystem unwürdig. Folglich haben die Befürworter der Initiative Recht, wenn sie argumentieren, dass solche Aspekte keinesfalls für die Stipendienvergabe ausschlaggebend sein dürfen. Allerdings müsste man dieses Chancengleichheitspostulat ausweiten und explizit auch auf das Geschlecht, die kulturelle Herkunft und die sexuelle Orientierung ausweiten. Nach wie vor haben Mädchen und Frauen in MINT-Berufen sowie Migrantinnen und Migranten generell nicht die gleichen Ausbildungs- und vor allem auch Förderchancen. Zudem fühlt sich fast die Hälfte aller Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen in Bezug auf ihre Ausbildungschancen diskriminiert*.

  • Ein Nein gilt allerdings im Hinblick auf die Frage der Chancengerechtigkeit, d.h., inwiefern diejenigen Jugendlichen, welche zu den «bildungsbenachteiligten» Familien gehören – also Kinder aus Arbeiter- und (benachteiligen) Migrantenfamilien – von der Stipendieninitiative profitieren können. Leider ist dies keinesfalls so. Heute studieren von 100 Jugendlichen aus bildungsambitionierten Familien durchschnittlich 88 Personen, von solchen aus benachteiligten Familien jedoch nur 23. Der Prozentsatz hat sich dabei in den letzten 30 Jahren nur um 10% erhöht. Mit anderen Worten: Währendem der Nachwuchs bildungsnaher und gut situierter Familien heute fast durchwegs studiert, sind Kinder aus benachteiligten Familien trotz den enormen Anstrengungen rund um die Bildungsexpansion in den 1970er Jahren kaum zu ihrem Recht gekommen. Es ist deshalb eine etwas undifferenzierte Aussage, wenn gewisse Befürworterkreise die Stipendieninitiativ mit der Aussage verknüpfen, sie diene dazu, Bildungsbenachteiligten ein Studium zu sichern.

So einfach ist das nicht. Um nicht nur Chancengleichheit, sondern eben auch Chancengerechtigkeit zu garantieren, braucht es viel mehr. Zwar ist die Stipendieninitiative ein grundsätzlich richtiger Weg. Aber sie müsste auch ganz andere «Achillesfersen» in den Blick nehmen. Denn:

  • Indem man in allen Kantonen die Harmonisierung durchsetzt, heisst dies noch lange nicht, dass dann tatsächlich diejenigen jungen Menschen Stipendien bekommen, welche sie am meisten brauchen.

  • Mit mehr und/oder höheren Stipendien kann man keine Chancengerechtigkeit erzielen und zwar deshalb nicht, weil eine Förderung von benachteiligten jungen Menschen viel früher einsetzen muss. Denn einem Arbeiterkind mit einer Matura in der Tasche ist es lange vorher schon gelungen, all die vielen Hürden zu meistern, die sich ihm in den Weg gestellt haben. Solche Hürden sind beispielsweise Primarschullehrkräfte, die Arbeiterkinder und Kinder aus benachteiligten Migrantenfamilien deutlich seltener für ein Gymnasium empfehlen oder ihnen – bei identischen kognitiven Fähigkeiten und Leistung – nicht die gleichen Noten geben wie privilegierteren Kindern. Dazu gehören oft auch die eigenen Eltern, welche sich früh schon gegen das Gymnasium aussprechen. Nicht selten ist es ihnen zu teuer und zu suspekt, weil sie selbst damit keine Erfahrung gemacht haben.

  • Es gibt auch junge Menschen, die studieren müssen, weil dies ihre Eltern wünschen, sie selbst aber eigentlich eher handwerkliche Talente und auch Interesse hätten. Stipendien sind in solchen Fällen kaum ein geeignetes Fördermittel.

  • Stipendien sind auch kein Wundermittel gegen den Fachkräftemangel. Tatsache ist, dass es oft andere denn finanzielle Gründe sind, welche junge Menschen dazu bewegen, Berufe mit Image- oder Prestigefaktor zu wählen und nicht solche, in denen grosser Nachwuchsmangel herrscht.

  • Höchstwahrscheinlich tragen Stipendien kaum dazu bei, die Studiendauer zu verkürzen oder einen Studienabbruch zu verhindern. Es ist das Bologna-System mit den Leistungsnachweisen und dem getakteten Stundenplan, das den Studierenden Stress bereitet. Insbesondere der Spagat zwischen Präsenzpflicht und straffen Studiengängen lassen nicht mehr den nötigen Raum für Nebenjobs, die Studierende als wichtig für ihre späteren Arbeitschancen erachten. Studienabbrecher geben in der Regel nicht finanzielle, sondern ganz andere Probleme für ihre Entscheidung an**.

Grundsätzlich ist die Richtung der Stipendieninitiative zu unterstützen. Aber sie ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Schweiz sollte sich im Vergleich zum europäischen Ausland endlich durchringen, ein wirkliches Zeichen für benachteiligte junge Menschen zu setzen – notabene jenseits der Frage, inwiefern es um einen Hochschulzugang oder um eine höhere Berufsbildung geht. Und hierfür müsste sie viel, viel früher ansetzen und nicht erst bei den Stipendien. Förderstiftungen wären hierfür besonders prädestiniert, so wie dies in Deutschland modellhaft geschieht.

Obwohl die Initiative mit ihren Versprechungen Mängel hat, ist sie ein wichtiges Zeichen auf dem Weg zur Herstellung von mehr Chancengerechtigkeit. Diese muss das Ziel einer Bildung sein, die sich als Bürgerrecht versteht.

Deswegen stimme ich ja.

 

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