Der Mythos vom kompetenten Säugling

In der Erziehung und Förderung des Nachwuchses stellt unsere Gesellschaft die Eltern unter einen enormen Vollkommenheitsdruck: Sie sollen das Kind als Persönlichkeit mit eigenständigen Bedürfnissen und Ansprüchen verstehen, ihm umfassende Liebe entgegen bringen, seine Bedürfnisse immer auf den ersten Platz setzen und das Kind nicht unnötig einschränken. In der Wissenschaft spricht man deshalb auch von der «Sentimentalisierung der Kindheit»*. Caroline Thompson nennt sie gar eine «sentimentale Revolution». Hinter diesem Phänomen steckt ein Paradigmawechsel, der Kindheit und Elternschaft in historisch einzigartiger Weise verherrlicht. War die Verherrlichung des Kindes im späten 19. und vor allem im 20.Jahrhundert noch auf eine kleine Gruppe nicht berufstätiger, bürgerlicher Mütter beschränkt gewesen, so trifft dies heute für weite Kreise der Gesellschaft zu und bildet die Grundlage einer modernen Definition von Elternschaft.

Der kompetente Säugling als Persönlichkeit

Seitdem die Kindheit entdeckt worden ist, sind Kinder immer wieder in unterschiedlichen Bildern portraitiert worden. Bestimmt vom jeweiligen Zeitgeist widerspiegeln sie in der Regel das, was Wissenschaft und Gesellschaft als zentral erachten. Das Bild des kompetenten Säuglings respektive des kompetenten Kindes passt deshalb bestens zu unserer heutigen Gesellschaft**. Dieses Bild hat sich im Verlaufe der späteren 1990er Jahre einen Eingang in die Köpfe der Mittel- und Oberschicht verschafft. Hinter dem Begriff steckt die Überzeugung, dass bereits Säuglinge Persönlichkeiten sind, die als kompetente Kinder und nicht als unfertige Wesen auf die Welt kommen. Diese Kompetenz muss ihnen nicht erst durch Erziehung, d.h. durch die Eltern oder durch andere Erwachsene, beigebracht werden. Infolgedessen wird auch fast unhinterfragt vorausgesetzt, dass sich ein kompetentes Kind bereits früh auf die Separation von den Eltern einstellen kann und in der Lage ist, sich mit geringen Schwierigkeiten an Babysitter, Kitas, Tagesmütter etc. anzupassen.

Nicht kompetent, aber lernfähig

In der Tat hat die moderne Säuglingsforschung Erstaunliches und Verblüffendes enthüllt. Schon Säuglinge können Überraschung, Ekel, Schmerz, Interesse oder Neugier ausdrücken und ihre Mutter und ihren Vater am Geruch erkennen. Auch kleine Kinder können schon viel – wenn man den Blick auf ihre Ressourcen und nicht auf ihre Defizite legt. In dieser Hinsicht sind sie tatsächlich «kompetent»***. Leider sind solche Erkenntnisse häufig vollkommen falsch interpretiert worden. Laut Brockhaus bedeutet Kompetenz nämlich schlicht und einfach «Sachverstand», und Sachverstand setzt Wissen voraus, damit Phänomene und Situationen wahrgenommen, verstanden und eingeordnet werden können. Säuglinge und auch kleine Kinder sind in diesem Sinne noch nicht kompetent. Sie sind lediglich besonders lernfähig und besonders lernbereit. Und darin haben wir sie jahrzehntelang unterschätzt. Der Mythos vom kompetenten Säugling und Kleinkind ist jedoch eine falsch gelegte Fährte, welche in die Überforderung der Eltern und ihrer Kinder führt.

Der Mythos der grenzenlosen Formbarkeit

Es ist keinesfalls so, dass Kinder kompetent auf die Welt kommen und wir ihnen folglich nur noch das Wesentliche beibringen müssen, z.B. das frühe Lesen- und Rechnenlernen, Fremdsprachen oder Ballett. Zwar sind kleine Kinder schon früh in der Lage, die Welt um sich herum zu erobern, zu entdecken und zu verstehen. Aber sie und ihre Bezugspersonen müssen dafür viel Zeit aufwenden, um die komplexe Welt an Lauten, Farben, Formen und Gegenständen und Beziehungen zu verstehen. Die Annahme ist widersinnig, dass kompetente Kleinkinder nach dem Motto «Je früher, desto besser» nach bestimmten Vorstellungen geformt werden können. Zwar ist die Vorstellung richtig, dass sie besonders gut lernen können. Es besteht jedoch eine grosse Gefahr, dies mit grenzenloser Formbarkeit gleichzusetzen, nicht zuletzt deshalb, weil ein solches Bild besonders gut zu unseren heutigen Gesellschaftsstrukturen passt. 

In dem Ausmass, wie das kompetente Kind zu einem normativen Muster geworden und seine Förderung von der Gesellschaft eingefordert wird, steigt der Druck auf die Eltern, ein solches Kind vorzeigen zu können. Die Tatsache, dass sie die alleinige Verantwortung für das Wohlergehen und den Bildungserfolg des Kindes tragen müssen, treibt sie in Ängste und Gewissensbisse, die sie mit einem Hang zur perfekten Elternschaft zu bewältigen versuchen. Der kompetente Säugling ist ein Ausdruck dieses Zeitgeistes. 

Weiterführende Literatur

* Honig, M.-S. (1993). Sozialgeschichte der Kindheit im 20. Jahrhundert. In M. Markefka & B. Nauck (Hrsg.), Handbuch der Kindheitsforschung (S. 207.-218). Neuwied: Luchterhand.

** Juul, J. (2013). Dein kompetentes Kind: Grundprinzipien der Pädagogik. Reinbek: Rororo.

*** Dornes, M. (2001). Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt a. M.: Fischer.

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