Die kleinen Könige: Wenn Kinder eine Überdosis an Zuwendung und Verherrlichung bekommen

erschienen in: NZZ, 29.04.22


Warum bekommt man heute Kinder? Um dem Leben einen Sinn zu geben, um Liebe zu schenken und sich selbst nicht mehr so wichtig zu nehmen. So antwortet ein Grossteil der Eltern oder solche, die es werden wollen. Elternliebe gilt als einmalig und unvergleichlich. Schon der Schriftsteller Jean Paul hat gesagt, mit einer Kindheit voll Liebe könne man ein halbes Leben lang in der kalten Welt auskommen. Zwar entspricht sie nicht dem «coup de foudre», der Liebe auf den ersten Blick, den die Franzosen «Blitzschlag» nennen. Doch Elternliebe gilt als grösser, inniger und zarter.

Dies dürfte ein Hauptgrund dafür sein, weshalb manche Mütter oder Väter ihren Nachwuchs als beste Freunde bezeichnen. Lieben sie das Kind bedingungslos und behandeln es als Kumpel, kommt die Liebe zurück. Und wenn es ihnen einmal schlecht geht, finden sie in ihm eine emotionale Stütze. Deshalb muss man das eigene Leben hinter dasjenige des Kindes stellen. Soweit die verbreitete Meinung.

Der gesellschaftliche Optimierungsanspruch führt zu einer überdimensionierten Aufopferungspflicht

Doch Elternliebe ist komplexer und zugleich eine widersprüchliche Waffe. Als Empfindung, die sich in Empathie, Kuscheln und Fürsorge zeigt, ist sie eine notwendige und grundlegende Erfahrung für das kindliche Aufwachsen. Aber wenn sie eine Überdosis an Zuwendung und Verherrlichung bedeutet, wirkt sie überfordernd. Kinder müssen weder mit Zuneigung überschüttet werden, noch sind sie dazu da, die Eltern als kleine Erwachsene emotional aufzufangen. Dies kommt einer unbewussten emotionalen Ausbeutung gleich.

Allerdings ist es zu einfach, die Eltern leichtfertig schuldig zu sprechen, welche ihre Kinder als Freunde behandeln. Dass sie den Nachwuchs permanent in den Mittelpunkt stellen und sogar die Paarbeziehung vernachlässigen, ist nicht lediglich das Ergebnis ihrer Unfähigkeit, die Kinder «richtig» zu erziehen. Eher ist es der radikale Optimierungsanspruch unserer Gesellschaft, der Mütter und Väter zwingt, die Aufopferungs- und Verherrlichungspflicht ernst zu nehmen. Sie gipfelt darin, dass Eltern alles für die Kinder tun, damit sie zu etwas Besonderem werden und andere überstrahlen. Diese sentimentale Revolution ist Ausdruck eines Paradigmenwechsels, der Elternschaft in historisch einzigartiger Weise verändert hat. Ursächlich sind verschiedene Trends damit verknüpft, etwa der Hype um die Einzigartigkeit des Kindes, anspruchsvolle Familienstrukturen oder die eigene Biografie.

Der Preis der Eltern für die Liebe des Kindes

Viele Ratgeber, die es auf die Bestsellerlisten schaffen – manchmal auch selbsternannte Experten – geben mit erhobenem moralischem Zeigefinger vor, was Familien für die Einzigartigkeit des Kindes tun sollen. Eltern, die unsicher sind und Orientierung suchen, nehmen solche Dogmen schnell und dankbar an. Perfekte Eltern, heisst es etwa, beschäftigen sich Tag für Tag «qualitativ hochwertig» mit dem Kind und stellen seine Bedürfnisse immer über die eigenen. Deshalb lieben sie es «bedingungslos» und nehmen auch eine «Auszeit vom Paarsein» in Kauf. Das sind nicht nur schreckliche Begriffe, sondern auch überflüssige Bemerkungen. Viele Väter und Mütter tun täglich ihr Bestes. Schon lange sind sie bereit, jeden Preis zu bezahlen, um sich der Liebe des Kindes, seiner Gesundheit, seines Schulerfolgs und seines Glücks zu versichern. In einer unserer Forschungsstudien sind überemotionalisierte Eltern-Kind-Beziehungen und ein angeheiztes Beziehungsklima in der Partnerschaft in mehr als dreissig Prozent der Familien Realität.

Auch komplizierte Familienverhältnisse tragen zu dieser sentimentalen Revolution bei. Partner kommen und gehen, das Kind bleibt. Es ist sogar das einzig Stabile, das Kontinuität über das ganze Leben und ohne Liebensentzug verspricht, was beim Partner möglicherweise nicht der Fall ist. Weil das Kind die emotionale Lücke füllt, um sich geliebt und sicher zu fühlen, wird es zum Glückserfüller emporstilisiert. Doch damit werden Väter und Mütter von ihm abhängig, weil sie befürchten, seine Liebe zu verlieren. Dies setzt auch an sich normale Eltern unter Dauerstress, so dass sie nur ein Ziel haben: alles fürs Kind zu tun und es permanent auf dem Radar zu haben.

Schliesslich können auch eigene biografische Erfahrungen dahinterstecken. Wer in der eigenen Kindheit Druck, Härte oder gar Repression erlebt hat, möchte solche Fehler nicht wiederholen und versucht, den Kindern das zu geben, was man selbst vermisst hat. Vielleicht gibt man ihnen deshalb von allem ein bisschen zu viel.

Kinder als  gleichwertige Partner

Sentimentalisierung und Verherrlichung der Kindheit können überfordernde Auswirkungen haben. Beispielsweise dann, wenn Eltern schon mit kleinen Kindern wie gleichwertige Partner kommunizieren und sie wegen jeder Kleinigkeit um ihre Meinung und Bedürfnisse fragen. Ein solches Verhalten drängt kleine Kinder in eine Position, die sie aufgrund ihres körperlichen, geistigen und psychischen Entwicklungsstandes kaum einnehmen können. Auch Eltern werden überfordert, sobald sie den Nachwuchs als verlängerter Arm von sich selbst verstehen. Sie getrauen sich dann kaum, Distanz zu ihm herzustellen und hierarchischer zu denken. Deshalb müssen sie immer mehr Energie aufbringen und sich förmlich zerreissen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen und ihn zufrieden zu sehen. Dies sprengt ihre Kapazitäten, und nicht selten kommt es sogar zu einem Rollentausch. Kinder werden zu kleinen Erwachsenen hochstilisiert, währendem sich die Eltern zunehmend den Kindern anpassen. Je mehr Väter und Mütter versuchen, das Kind symmetrisch zu behandeln, desto stärker begeben sie sich in seine Abhängigkeit.

König ist das Kind nur in der Familie. Kommt es in ein anderes Umfeld – in die Kita, die Spielgruppe, den Kindergarten, die Schule –, steht es anderen kleinen Königen gegenüber. Obwohl sie zwar ähnlich erzogen werden, gelten in diesen Institutionen nun andere Regeln. Solche Kinder müssen deshalb plötzlich verkraften, dass sie hier nicht mehr uneingeschränkte Zuwendung bekommen, sondern lediglich ein Kind unter anderen in einer Gruppe sind. Dadurch entsteht für sie eine neue und schwierige Situation. Von zu Hause her gewohnt, eine grosse Anspruchshaltung haben zu dürfen, bewundert zu werden und die Welt um sich herum steuern zu können, rebellieren sie in der neuen Umgebung, sobald sie nicht mehr im Mittelpunkt stehen und sich anpassen müssen. Sie sind dauernd schlecht gelaunt und finden nichts gut. Ihre Psyche ist in einem permanenten Überforderungszustand.

Mündig und lebenskompetent werden: das wichtigste Erziehungsziel

Das ist kein gutes Fundament, um spätere Entwicklungsaufgaben erfolgreich zu meistern, etwa den Übergang in die Oberstufe, in eine Berufslehre, ins Gymnasium oder generell in einen neuen Lebensabschnitt. Weil sich solche Kinder und Jugendlichen vollkommen auf die Eltern verlassen und jederzeit ungeteilte Aufmerksamkeit bekommen, können sie kaum Eigeninitiative, Frustrationstoleranz, Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen entwickeln. Sie lernen nie oder dann viel zu spät, für das eigene Tun Verantwortung zu übernehmen. Damit wird ihnen das vielleicht wichtigste Erziehungsziel vorenthalten: mündig und lebenskompetent zu werden.

Wie kommen wir aus dieser Spirale der strapazierten Zuwendungspflicht heraus? Indem diese Problematik zur Debatte gestellt wird. Angesprochen sind Expertinnen und -experten der Beratung respektive der Eltern- und Familienarbeit sowie Kinderärzte. Weil sie Familien kontinuierlich begleiten, sind sie die vielleicht wichtigsten Instanzen. Sie können Eltern unterstützen, ihre zu starke emotionalisierte Zuwendung zum Kind zu korrigieren und sie darin zu bestärken, dass es dem Nachwuchs guttut, wenn er aus dem goldenen Käfig des Familienkönigs ausbrechen darf.

Eltern sollten nicht nur ihre Erziehungsstile überdenken, sondern auch ihr Leben als Paar. Vielleicht kommen sie dann zur Einsicht, dass sie wegen ihren kleinen Königen die Paarebene vernachlässigen und davon ausgehen, die Paarbeziehung laufe von allein. Nach dem Motto: Jetzt brauchen uns erst einmal die Kinder. Das Wir kommt dann irgendwann später wieder. Das ist falsch – so die einhellige Antwort von Paartherapeuten. Eltern kommen zuerst und dann die Kinder. Der Nachwuchs sollte nicht Priorität vor der Paarbeziehung haben. Eltern sein, aber Liebespaar bleiben. Wer sich regelmässig We-Time nimmt, tut nicht nur etwas für die Partnerschaft, sondern signalisiert den Kindern auch, dass Mama und Papa nicht immer zur Verfügung stehen.

Wir eilen, also sind wir. Was uns Träumerkinder l...
Über die Abwertung des Männlichen
 

Kommentare 1

Gäste - Susan Kunz am Montag, 17. Juli 2023 06:45

wenn älterer Väter (63) seine Tochter (-6) vergöttert.Er schreibt ich bin stolz ich habe eine kleine Erwachsene ..ich bin so stolz sie kann einfach alles ....ich könnte schreien als Grossmutter. Seit einem Jahr sehe ich die kleine niemehr lächeln auf einem Foto..kann nicht helfen ihr Wohnsitz Philipinnen! Seine 12 j Stiftochter ist die böse im Hause sie macht alles kaputt ..ihr wird immer die kleine Mayarie als Vorbild aufgedrängt Das wirft ihr der Sohn auch oft vor ..dann rennt die kleine Tochter weg ..sie will gar nicht glorifiziert werden
Oft ist Mayarie krank ..sie ist so belastet unter stress dem Vater zu genügen ..ihn niemals zu enttäuschen --weil..meine Meinung..sie schreckliche Angst hat ihr Vater würde sie dann- wie seine Stifttochter abschätzig behandeln..nicht mehr lieben.Ich bin so verzweifelt --wohne eine halbe Welt entfernt aber ich sehe das schon ein Jahr,,da wohnten sie hier, was da abgeht und es wird zum Elend in der familie führen! Danke färs Feedback susan

wenn älterer Väter (63) seine Tochter (-6) vergöttert.Er schreibt ich bin stolz ich habe eine kleine Erwachsene ..ich bin so stolz sie kann einfach alles ....ich könnte schreien als Grossmutter. Seit einem Jahr sehe ich die kleine niemehr lächeln auf einem Foto..kann nicht helfen ihr Wohnsitz Philipinnen! Seine 12 j Stiftochter ist die böse im Hause sie macht alles kaputt ..ihr wird immer die kleine Mayarie als Vorbild aufgedrängt Das wirft ihr der Sohn auch oft vor ..dann rennt die kleine Tochter weg ..sie will gar nicht glorifiziert werden Oft ist Mayarie krank ..sie ist so belastet unter stress dem Vater zu genügen ..ihn niemals zu enttäuschen --weil..meine Meinung..sie schreckliche Angst hat ihr Vater würde sie dann- wie seine Stifttochter abschätzig behandeln..nicht mehr lieben.Ich bin so verzweifelt --wohne eine halbe Welt entfernt aber ich sehe das schon ein Jahr,,da wohnten sie hier, was da abgeht und es wird zum Elend in der familie führen! Danke färs Feedback susan
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