Entscheidet der Schuleintritt über das kindliche Schicksal?

Die Überzeugung ist weit verbreitet, dass es nicht mehr zulässig ist, Kinder vor dem Schuleintritt einfach nur spielen zu lassen. Kinder sollten »richtig« lernen, d. h. sich schulisch relevantes Wissen schon möglichst früh aneignen. Zwar haben sich Väter und Mütter schon immer Sorgen gemacht über die Zukunft ihres Kindes. Neu ist jedoch, dass viele von ihnen überzeugt sind, der Zeitpunkt des Schuleintritts entscheide über sein Schicksal. 65 Prozent der Eltern hatten in unserer FRANZ-Studie das Gefühl, dass es heute für ein Kind wichtig oder sehr wichtig ist, gegenüber den anderen Kindern beim Schulstart einen Vorsprung zu haben*. Deshalb ist die spätere Einschulung so beliebt geworden. 45 Prozent der Mütter trugen sich in unserer Untersuchung sogar mit dem Gedanken, ab der Schulzeit die eigene Erwerbstätigkeit zu reduzieren, um mehr Zeit für die Unterstützung bei den Hausaufgaben zu haben.

Die Bedeutung des Vorsprungs beim Schulstart

Die grosse Bedeutung, welche Eltern dem Vorsprung beim Schulstart beimessen, ist verständlich. Denn nicht selten steht dahinter die Furcht, das eigene Kind könnte im schulischen Leistungswettbewerb nicht bestehen. Deshalb setzen sie vor allem auf das Lesen- und Rechnenlernen. Viele Väter und Mütter wetteifern dabei mit Freunden und Nachbarn um die erzielten Wissensfortschritte des Nachwuchses. Nicht selten lassen sie auch eine Potenzialanalyse durchführen, mit dem Ziel, die Diagnose »Hochbegabung« zu erhalten. Dafür rennen sie von einem Psychologen zum nächsten, bis dieses Ergebnis vorliegt**.

Doch konnte keine einzige Studie bisher belegen, dass frühe Lese- oder Mathematikinstruktion oder der wöchentliche Kurs in Babyzeichensprache oder im Babyenglisch aus den Kleinsten spätere Sprachtalente, Rechengenies oder hervorragende Schüler macht. Darauf verweisen auch die Ergebnisse unserer Studie »Frühlesen und Frührechnen als soziale Tatsachen«, die wir von 1995 bis 2008 durchgeführt hatten. Die Leistungsverläufe der Kinder, die wir beim Schulstart als »Frühleserinnen oder Frühleser und als »Frührechnerinnen und Frührechner« bezeichnet hatten, waren bis zum Schulabschluss sehr unterschiedlich***. Insgesamt liessen sich drei Gruppen unterscheiden:

eine stabile Gruppe, welche kontinuierlich gute Leistungen erzielte

eine Gruppe mit relativ rasch abfallenden Leistungen

eine Gruppe mit vorerst guten Leistungen, die sich ab der dritten Klasse kontinuierlich verschlechterten

Intrinsisch motivierte Kinder sind am erfolgreichsten

Die stabile Gruppe, die seit der ersten Klasse zu den Klassenbesten gehörte, unterschied sich von den weniger erfolgreichen Gruppen dadurch, dass sie Lesen und Rechnung vorwiegend aus Eigeninitiative gelernt hatte und nicht durch elterliche Instruktion. Daraus lässt sich schliessen, dass Kinder, die schulvorbereitend in Lesen und Mathematik von den Eltern oder in einem Förderkurs instruiert werden, zwar einen Vorsprung gegenüber anderen bekommen, der sich jedoch relativ schnell »auswäscht«, d. h. bereits nach einem oder zwei Schuljahren wieder verschwindet. Solche Kinder sind später kaum besser in der Schule als nicht gezielt schulvorbereitend geförderte Kinder. Kinder, die sich hingegen aus eigener Motivation solche Kompetenzen aneignen, sind langfristig erfolgreicher.

Unbesehen davon haben Eltern nicht selten überzogene Erwartungen an ihre Kinder und zwingen sie deshalb unablässig zum Lernen und zum Üben. Zwar ist aus der Expertiseforschung bekannt, dass hohe Erwartungen und auch ein gewisser Druck von Eltern, Mentoren, Trainer und Lehrkräften auf dem Weg zu guten oder hervorragenden Leistungen wichtig ist. Aber genauso wichtig ist das sensible Gespür, wie stark die Kinder gefordert werden können, inwiefern überhaupt intrinsisches, also eigenmotiviertes Interesse vorhanden ist und es deshalb auch darum geht, Motivationsprobleme zu überwinden. Gerade für stark geförderte Kinder dürfte ein Hauptproblem darin liegen, dass ihre Eltern sie fühlen machen, dass sie nur dann etwas wert sind, wenn sie sich immer produktiv und leistungsbereit zeigen. Daraus resultieren manchmal klinische Probleme. Intensive Schulvorbereitung, Druck und zu hohe Anforderungen führen überdurchschnittlich häufig zu späterer Leistungsängstlichkeit, Leistungsmotivationsproblemen, Schwierigkeiten in der Bindung an Gleichaltrige oder gar zu Depressionen.

Emotionale Kompetenzen für eine erfolgreiche Schullaufbahn

Aus wissenschaftlicher Sicht müssen ehrgeizige Eltern enttäuscht werden. Früh instruierte Kinder bekommen zwar einen Vorsprung gegenüber anderen, aber dieser wäscht sich relativ schnell aus. Der Schuleintritt ist sehr bedeutsam, doch beginnt die Vorbereitung viel früher und beschränkt sich nicht auf die Instruktion von Lesen, Mathematik und Schreiben, auf Frühförderkurse oder auf die vorzeitige Einschulung. Eine ausgewogene physische und mentale Gesundheit, emotionale Stabilität und ein gutes Selbstwertgefühl sind ebenso wichtige Grundlagen für eine erfolgreiche Schullaufbahn.

Weiterführende Literatur

*vgl. Dossier und Schlussbericht der Studie auf der Website.

**Stamm, M. (2017). Lasst die Kinder los. Weshalb entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. München: Piper.

***Largo, R. & Jenni, O. (2005). »50 Jahre Forschung in den Zürcher Longitudinalstudien:Was haben wir daraus gelernt?«, in: Arbeitsstelle Frühförderung Bayern (Hrsg.): Tagungsband Forschung für die Praxis I – Wie funktioniert (kindliche) Entwicklung? München: Arbeitsstelle Frühförderung, S. 47–56.


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