Der leise Ausstieg aus dem Gymnasium. Dropouts sind noch lange keine Verlierer

erschienen in: NZZ, 11.07.2025, 15.


Wer vor der Matura das Gymnasium verlässt, gilt als Dropout. Die Ursache dafür wird meist in der mangelnden Intelligenz gesehen. Solche jungen Menschen sollten eher eine Berufslehre machen oder eine Fachmittelschule besuchen – heisst es. Tatsache ist, dass etwa drei Viertel der Heranwachsenden das Gymnasium auf direktem Weg abschliessen, 17 Prozent repetieren ein- oder mehrmals, 14 Prozent treten vorzeitig aus.

In den Medien sind Portraits von Dropouts beliebt. Dazu gehört die Sängerin Nena. Sie hat das Gymnasium vorzeitig verlassen und eine Berufslehre als Goldschmiedin begonnen. Diese hat sie dann abgebrochen, um sich ganz der Musik zu verschreiben. Anders Thomas Mann, der als träumerischer Faulpelz galt und heute als «Minderleister» bezeichnen würde. Zwar stammte er aus einer angesehenen Lübecker Familie und hatte das Zeug zum Abitur. Trotzdem stieg er aus dem Gymnasium aus und arbeitete bis zu seinem Schriftsteller-Debut mit «Buddenbrocks» als Volontär in einer Feuerversicherungsgesellschaft. Und schliesslich Iris Berben, die Rebellin, die vom Internat flog, das Abitur hinwarf und sich dann erfolgreich der Schauspielerei widmete.

Kantonale Unterschiede

Aktuell verläuft die Diskussion eher negativ. Im Mittelpunkt stehen meist die mangelnden kognitiven Fähigkeiten und akademischen Interessen von Dropouts. Doch der Schweizer Bildungsbericht 2023 relativiert solche Überzeugungen mit wichtigen Erkenntnissen zur Bedeutung der sozialen Herkunft und des Geschlechts. Wer aus einem einfachen Milieu stammt – mit migrantischer Herkunft oder ohne – tritt überdurchschnittlich oft aus dem Gymnasium aus. Ähnliches gilt für junge Männer im Vergleich zu jungen Frauen. Weitgehend unbeachtet bleiben jedoch Gymeler, die sich zum Austritt entschliessen, weil sie trotz relativ guter Noten eine Berufslehre absolvieren wollen.

Die Leistungsschwäche als alleinige Ursache für den vorzeitigen Gymiaustritt muss somit angezweifelt werden. Zwar korrelieren tiefe Pisa-Kompetenzen mit dem erhöhten Risiko einer Repetition oder einem vorzeitigen Ausstieg. Gleichzeitig erstaunen die unterschiedlichen kantonalen Übertrittsquoten. Kantone mit höheren Anteilen an Übertritten verzeichnen auch mehr Repetitionen und vorzeitige Ausstiege. Zwei Beispiele: Kein anderer Kanton schickt so viele Jugendliche ans Gymnasium wie Genf mit etwa 45 Prozent. Gleichzeitig müssen es gegen 50 Prozent schon im ersten Jahr wieder verlassen. Anders sieht es im Kanton Tessin aus. Hier treten gut 40 Prozent ins Gymnasium ein. Zwar ist die Selektion weniger streng, doch mehr als 20 Prozent müssen wiederholen und ein weiteres Viertel schafft die Matura dann doch nicht.

Vier Muster

Doch der Blick auf Quoten ist zu eng, es braucht eine breitere Perspektive. Das leistet unsere längsschnittlich angelegte Studie. Das Ziel war, die Ursachen von Gymi-Ausstiegen mittels einer Befragung von gut 200, 17- bis 18-jährigen Personen zu beleuchten. Daraus resultierte eine Typologie mit vier Mustern: «Die Überforderten», «Die Neuorientierten», «Die Minderleistenden» und «Die Zurückgezogenen».

«Die Überforderten» (26%) stammten meist aus gut situierten und engagierten Familien, bekamen oft Nachhilfe, mussten aber trotzdem eine oder mehrere Klassen wiederholen. Obwohl sie relativ viel Zeit für die Stoffbearbeitung aufwendeten, reichte es einfach nicht. Der Gymi-Austritt war deshalb eine eher notwendige Folge. Fast Gegenteiliges galt für «Die Neuorientierten» (24%). Obwohl sie durchschnittliche bis gute Noten hatten, wechselten sie in eine Berufslehre. Die intellektuelle Orientierung am Gymnasium war ihnen zu eng, die praktische Arbeit in einem Betrieb vielversprechender. Deshalb wurde der Ausstieg für manche zum Weg in eine persönliche Identitätsfindung.

Anders die «Minderleistenden» (23%). Nicht selten wird dieser Typ in der Forschung übersehen, weil er vordergründig den «Überforderten» am meisten entspricht und als leistungsschwach etikettiert wird, obwohl dies in Bezug auf deren Fähigkeiten nicht zutrifft. Die Mehrheit der Minderleistenden war männlich, mehr als drei Vierteln war während ihrer Schulzeit attestiert worden, ein überdurchschnittliches Potenzial zu haben. Dieses Merkmal ist ein wichtiger Unterschied zu den «Überforderten».

Eher als Aussenseitertyp gilt die Gruppe der «Zurückgezogenen» (27%). Als Hauptgründe für den Ausstieg nannte die Mehrheit Beziehungs- und Akzeptanzprobleme in der Klasse. Obwohl sie kaum schlechte Noten hatten, fühlten sie sich oft am falschen Ort. Überdurchschnittlich vertreten waren junge Menschen aus einfachen Verhältnissen und solche weiblichen Geschlechts.

Doch nicht nur die Tatsache interessiert, dass es den Aussteiger oder die Aussteigerin nicht gibt, sondern ebenso die Frage, was aus ihnen geworden ist. In den letzten Monaten konnten wir in einer Nacherhebung 60 Prozent der heute etwa 35-Jährigen nochmals befragen und Auskunft erhalten, wo sie aktuell stehen und was sie aus der Rückschau anders machen würden. Dass die Rücklaufquote erfreulich hoch war, dürfte eine Folge unserer kontinuierlichen Kommunikation mit ihnen in all den Jahren sein.

Zwar hat in der Zwischenzeit jede zehnte Person nochmals eine Ausbildung abgebrochen. Trotzdem verfügen heute achtzig Prozent über einen Hochschulabschluss oder haben eine Höheren Berufsbildung absolviert. Die anderen bezeichnen sich als Freelancer mit verschiedenen Ausbildungen, die allerdings bislang eidgenössisch meist nicht anerkannt sind.

Selbstreflexion aus der Rückschau

Würden sie aus der Rückschau etwas anders machen? Mehr als drei Viertel sind mit ihrem nicht geradlinigen Werdegang zufrieden, auch wenn fast die Hälfte die Weichen aus heutiger Sicht etwas anders stellen würde. Einige gaben zu Protokoll, der Ausstieg habe nicht unwesentlich mit den eigenen Unsicherheiten und dem mangelnden akademischen Interesse zu tun gehabt. Und für manche wurde erst im Gymnasium klar, dass eine Berufslehre für sie attraktiver war. Andere sagten, der Ausstieg sei auch ein Aufbegehren gegen die akademischen Wünsche des Elternhauses gewesen.

Was lässt sich aus diesen Erkenntnissen schliessen? Erstens dürfen vorzeitige Gymi-Ausstiege weder problematisiert noch heroisiert werden. Sie sind nicht per se eine Folge von Leistungsschwäche und Überforderung, sondern genauso ein Manifest für einen schnelleren oder langsameren Neubeginn. Zweitens sind Dropouts noch lange keine Verliererinnen oder Verlierer. Manche konnten gerade über den Ausstieg ihren Weg besser finden oder neue Türen aufstossen. Ein Teilnehmer – heute ist er Inhaber einer Computerfirma – schrieb: «Zuerst war der Austritt für mich schlimm, weil ich am Gymnasium scheiterte und von der Schule keine Unterstützung bekam. Doch dann habe ich gelernt, dass ich mich der Wirklichkeit stellen muss. Langsam hat sich aus dieser Niederlage ungeahnt Neues entwickelt.» Vorzeitige Ausstiege haben somit auch viel mit den positiven Seiten des Scheiterns zu tun.

Solche Ergebnisse sind auch zwiespältig. Zwar sind Gymnasien nicht für vorzeitige Austritte ihrer Schülerinnen und Schüler verantwortlich, doch sie übernehmen oft eine bestimmte Rolle in solchen Ausstiegsprozessen. Wie sie diese wahrnehmen, begleiten, organisieren oder zu verhindern versuchen, dürfte eine Herausforderung sein und zukünftig werden.

Die Frage der Haltekraft

Das Wort der Stunde ist deshalb die «Haltekraft» von Gymnasien. Wichtig sind Schul- und Abteilungsleitungen, die das Thema Schuldistanzierung und vorzeitige Ausstiege zur Chefsache erklären und versuchen, im Kollegium und in den Fachschaften eine einheitliche Strategie zu finden. Schulen, die Partizipation und Integration als wichtiges Qualitätsmerkmal verstehen, reagieren auf häufige Abwesenheiten oder auffällige persönliche und andere Probleme schnell und direkt. Zumindest ist das gemäss der aktuellen Forschung die beste Prävention für die Vermeidung von vorzeitigen Ausstiegen. Mehr können Gymnasien auf Haltungs- und Beziehungsebene wohl kaum tun.

Anders sieht es auf der Strukturebene aus. Basierend auf dem Wissen um das lebenslange Lernen sollten Gymnasien das Phänomen vorzeitiger Ausstiege aufnehmen und Standards definieren, die zwar nicht auf eine Reduktion der Leistungsansprüche ausgerichtet sind, doch Zeit geben für Neues und für die Suche nach der Vertiefung persönlicher Interessen. Für die Generation Z und die nachrückende Generation Alpha dürften solche Standards besonders wichtig werden, um am Gymnasium zu bleiben. 

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