Die Not der Noten

Als Erwachsene hat man oftmals die eigenen Schulnoten vergessen, doch bleiben einzelne Erinnerungen an besondere Situationen. Als meine Mutter kurz vor meinem Übertritt in die Bezirksschule (die mir erst im zweiten Anlauf mit der mündlichen Prüfung gelang) mit dem Primarlehrer über meine Möglichkeiten sprach, sagte er etwa dies zu ihr: «Ihre Tochter gibt sich zwar Mühe, aber im sprachlichen Ausdruck wird sie es nie weit bringen. Das ist ja auch verständlich. Sie können ihr wahrscheinlich nicht das geben, was dafür nötig wäre.» (Meine Mutter war Serviertochter, mein Vater Bodenleger). Logischerweise waren meine Deutschleistungen auch in der Bezirksschule immer nur genügend – bis ich Jahre später einen Deutschlehrer als Mentor fand.

Noten sind im Gespräch

Ich hatte damals zum ersten Mal unbewusst erfahren, dass Noten kein objektiver Ausweis, kein unbestechliches Merkmal für alles sind, was man (nicht) kann. Noten werden fast zufällig vergeben – so Winfried Kronig* - dies das Ergebnis seiner Studie, die wiederum auf einem breiten Forschungskorpus ähnlicher und bisher unangefochtener Befunde basiert. Gerade Kronigs Buch und neuerdings die Studie von Daniel Hofstetter** haben aber dazu geführt, dass die wissenschaftlichen Zweifel an der Aussagekraft von Noten vermehr diskutiert werden und die LCH-Präsidentin neulich sogar weniger Noten in der Schule gefordert hat***.

Winfried Kronig und der Referenzgruppenfehler

Winfried Kronigs Buch weist nach, dass der Bildungserfolg weit weniger als angenommen das Ergebnis persönlichen Fleisses und individueller Fähigkeiten ist, sondern in erster Linie ein Produkt von Privilegien und Zufällen, weshalb sie anfällig für Verzerrungen sind. Seine wichtigsten Befunde:

Der Referenzgruppenfehler: Tatsache ist, dass sich Schulklassen im Leistungsspektrum stark unterscheiden. Die leistungsstärkste Schülerin einer Klasse würde beispielsweise in einer anderen Klasse zu den Schwächsten gehören. Grund: Lehrkräfte können Schülern kaum eine tiefe Durchschnittsnote geben, weil sie auch bei grossen Unterschieden eine ähnlich breite Bewertungsskala anwenden.

Der Wohnort entscheidet: Während man in einem Kanton besser als 40% der Klasse sein muss, um nicht einer Real- oder Abschlussklasse zugeteilt zu werden, reichen in einem anderen Kanton bereits 10%.

Buchstaben, Kreuzchen, Lernberichte: Gemäss Kronig ist das Tragische an der Notengebung, dass Verzerrungen bei jeglicher Form der Leistungsbeurteilung wirksam werden – auch wenn Noten durch Alternativen ersetzt werden.

Überschneidungen zwischen hierarchischen Schultypen: 80% der Realschüler- resp. Sek-C-SchülerInnen haben  ein gleichaltriges Vergleichskind irgendwo in der deutschen Schweiz, das in der Schule gleich gut ist, aber einen anspruchsvolleren Schultyp besucht.

Daniel Hofstetter und die Problematik der Übertrittsentscheidungen

Daniel Hofstetters Studie untersucht die Frage, wie innerhalb schulischer Organisationsstrukturen Übertrittsentscheide zustande kommen, begründet werden, mit welchen Konsequenzen und für wen. Analog zu Kronigs Studie wird auch hier der Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Hintergrund der Schulkinder und ihrer Platzierung in den hierarchisierten Sektionen der Sekundarstufe I deutlich. Seine Hauptbefunde:

Die unsichtbare Hand der Verteilung: Das Bildungssystem verteilt quasi durch eine unsichtbare Hand jährlich ungefähr gleich viele Schulkinder ihrer Herkunft entsprechend auf die zur Verfügung stehenden Plätze der hierarchisierten Sekundarstufe I.

Das Wahlverhalten der Eltern und die Praktiken der Lehrkräfte: Mikroentscheidungen führen dazu, dass soziale Ungleichheiten in der Tendenz in Bildungsungleichheiten überführt werden. Kinder werden für den ihnen zugewiesenen Klassenzug anhand von drei Konstellationen «passend» gemacht:

  • Besteht eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen Eltern und Lehrkräften: Die Übertrittsempfehlung wird in gegenseitiger Sympathie diskutiert. Es besteht eine Bereitschaft der Lehrkräfte, ihre eigenen Eindrücke in Frage zu stellen.
  • Besteht eine Überlegenheit der Eltern gegenüber den Lehrkräften: Lehrkräfte überdenken ihr Urteil mehrfach, weil sie damit rechnen, dass sie ihren Entscheid werden legitimieren müssen. Eltern lenken das Gespräch, bis die schulische Deutung ihres Kindes ihren Erwartungen entspricht.
  • Besteht eine Überlegenheit der Lehrkräfte gegenüber den Eltern: Selbst wenn Eltern (meist einfacher Sozialschichten) eine höhere Zuteilung ihres Kindes wünschen, folgen sie der Argumentation der Lehrperson. Sie sind überzeugt, dass Lehrerinnen und Lehrer aufgrund ihrer Professionalität das Kind besser einschätzen können als sie.

Fazit

Beide Studien widerlegen die verbreitete Überzeugung, man könne mit einer seriösen Handhabung der Noten respektive einem wissenschaftlich durchdachten System den Übertrittsentscheid gerecht gestalten. Eher ist es so, dass solche Instrumente einer Verfahrensgläubigkeit verfallen und deshalb die sozialen Einflusskräfte verschleiert werden.

Kronig und Hofstetter betonen, dass die Lehrkräfte meist meist regel- und gesetzeskonform handeln. Aber Noten haben nicht nur eine lange Tradition, sondern gleichzeitig auch viele problematische Seiten. Liessen sich diese beheben, hätte man dies schon lange getan. Dies dürfte auch der Grund sein, weshalb bisher keine Alternativen vorgelegt werden konnten. Die Selektions- und Leistungsaufgabe von Lehrkräften und Schule machen es notwendig, dass sie ans Bildungssystem glauben und wie oben dargelegt argumentieren. Nur so können sie ihre folgenreiche Aufgabe erfüllen.

Wenn die Politik demnächst das Thema in ihre Agenda aufnehmen will, sollte sie solche harten empirischen Fakten bedenken.

Weiterführende Literatur

*Kronig, W. (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Bern: Haupt.

**Hofstetter, D. (2017). Die schulische Selektion als soziale Praxis: Aushandlungen von Bildungsentscheidungen beim Übergang von der Primarschule in die Sekundarstufe I. Weinheim: Beltz Juventa.

***Donzé, R. (2019). Zeugnisse: Noten sind die harte Währung. 28.12.2019. https://nzzas.nzz.ch/meinungen/noten-sind-die-harte-waehrung-ld.1531105; inklusive Interview mit Dagmar Rösler: https://nzzas.nzz.ch/schweiz/lehrerverbandspraesidentin-dagmar-roesler-stellt-noten-infrage-ld.1531102 

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