Macht die Feminisierung der Schule aus den Knaben Bildungsverlierer?

erschienen im Nebelspalter, 17.11.2021


Knaben sind die Sorgenkinder des Bildungssystems. Schon im Kindergarten kommen ihre Bedürfnisse zu kurz. Auch in der Primarschule werden Mädchen von den überwiegend weiblichen Lehrkräften bevorzugt. Sie ignorieren die Anliegen und Eigenarten der Knaben weitgehend. Wird diese Entwicklung nicht gestoppt, wächst eine Generation von männlichen Bildungsversagern heran. Soweit die verbreitete Meinung.

Doch diese These zur «Feminisierung der Schule» ist zu gewagt. Unberücksichtigt bleibt, dass nicht alle Knaben Sorgenkinder und nicht alle Mädchen auf der Überholspur sind. Genauso wird kaum zur Kenntnis genommen, dass die Unterschiede innerhalb der Geschlechter grösser sind als zwischen ihnen, Knaben aber in allen Bereichen die weniger homogene Gruppe sind.

Das weibliche Geschlecht ist nicht schuld an der Knabenkrise

Internationale empirische Studien kommen im Gegensatz zur obigen These zum Schluss, dass Knaben bei Lehrern weder bessere Leistungen zeigen noch bessere Schulnoten in Mathematik, Deutsch oder Fremdsprachen bekommen und auch keine höhere Chance aufs Gymnasium haben als bei Lehrerinnen. Das weibliche Geschlecht ist nicht schuld an der Knabenkrise – auch wenn sich die Schule feminisiert hat. Trotz der Tatsache, dass im Kindergarten der Frauenanteil 98 Prozent beträgt, in der Primarschule 86 Prozent und 57 Prozent in der Sekundarstufe I: Männliche Lehrkräfte wirken sich nicht positiver auf die Schulnoten der Knaben aus.

Das Lernverhalten ist zentral

Warum verlaufen die Schulkarrieren von vielen Knaben trotzdem weniger erfolgreich? Das dürfte massgeblich mit ihrem Lernverhalten zusammenhängen. Mädchen sind öfters gewissenhafter und selbstdisziplinierter. Dies sind wichtige, für schulisches Lernen förderliche Kompetenzen. Knaben tun hingegen im Durchschnitt weniger für die Schule. Sie orientieren sich eher am Prinzip des minimalen Aufwands, um mehr Zeit für die aus ihrer Sicht spannenderen Freizeitaktivitäten zu haben. Im Gegensatz dazu stecken Mädchen viel Zeit und Energie ins Lernen und setzen auch für die Hausaufgaben viel Zeit ein, was jedoch eine erhöhte Stressanfälligkeit zur Folge haben kann.

Solche Verhaltensunterschiede führen dazu, dass Knaben schneller als defizitär eingestuft werden und Lehrkräfte – Männer wie Frauen – ihre Mitarbeit und ihre Leistungen schlechter beurteilen. Verhalten sich Knaben im Unterricht ähnlich wie Mädchen, bekommen sie bei vergleichbarem Leistungsvermögen und einer guten Mitarbeit identische Noten, und zwar von Lehrerinnen und Lehrern. Mit anderen Worten: Mädchen, die sich geschlechtstypisch und Knaben, die sich geschlechtsatypisch verhalten, haben besonders gute Chancen, in der Schule erfolgreich zu sein.

Bildungsreformen und ihr möglicher Beitrag zur Knabenkrise

Damit stellt sich die Frage, ob das vorherrschende Bild von Männlichkeit weniger zum System Schule passt als dasjenige von Weiblichkeit. Ist die Schule heute zu einer fremden Umgebung für das männliche Geschlecht geworden? Möglicherweise. Doch um dies zu ergründen, müssen wir davon wegkommen, Lehrerinnen für den Misserfolg eines Teils der Knaben verantwortlich zu machen. Statt sich auf die Feminisierungsthese einzuschwören, sollte sich die bildungspolitische Diskussion eher auf verdeckte Problembereiche konzentrieren. Beispielsweise auf Bildungsreformen, die vielleicht die Schulkrise von Knaben mitprovoziert haben. Gemeint ist das, was unter dem Stichwort «Gendering in der Schule» zusammengefasst wird, etwa die sprachlastigen und auf Sozialkompetenzen fokussierten Lehrpläne, der Fokus auf Kommunikation oder Teamarbeit bei gleichzeitigem Wegfall von wettbewerbsorientierten und für Knaben eher förderlichen Unterrichtssequenzen sowie die nach wie vor eher auf Mädchen ausgerichtete Sichtbarkeit der Geschlechter in Schulbüchern.

Was ist eine männliche Vorbildwirkung?

Der Ruf nach mehr Männern in der Schule ist wahrscheinlich nicht die richtige Antwort, um von der «Knabenfeindlichkeit» der Schulen wegzukommen. Vor allem auch deshalb nicht, weil nicht jeder Lehrer mit seinem Männerbild ein geeignetes Vorbild für Knaben sein dürfte. Was eine «gute» männliche Vorbildwirkung ist – darüber ist unsere Gesellschaft sehr gespalten. 

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