Problematische Reaktionen auf den Lehrlingsmangel

Die Unternehmen haben es zunehmend schwer, geeignete Lehrlinge zu finden. Noch vor drei Jahren gab es zu wenig Ausbildungsplätze, doch die Lage hat sich diametral gewendet. Und es sind nicht nur die kleinen Betriebe, welche keine Lehrlinge mehr finden, sondern ebenso die grossen Betriebe. Neueste Statistiken wie der Lehrstellenbarometer zeigen, dass erstmals seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2003 das Angebot die Nachfrage überstieg. Je nachdem, welche Quelle man konsultiert, blieben im Jahr 2012 zwischen 5000 und 8000 Lehrstellen unbesetzt. Glaubt man den Statistiken des BfS, dann stehen wir erst am Anfang einer immer schwieriger werdenden Entwicklung, denn es sind geburtenschwache Jahrgänge, welche in den nächsten Jahren die Schule verlassen werden. Im Jahr 2020, so das BfS, werden 6000 Jugendliche weniger als heute eine Berufslehre beginnen. Gleichzeitig boomt die Wirtschaft und verlangt nach mehr Auszubildenden. Eine wesentliche Rolle in der ganzen Problematik spielt die Tatsache, dass der Zustrom zu den Gymnasien ungebrochen ist.

Bedeutet dies nun, dass die Aussichten, eine Lehrstelle zu finden, noch nie so gut waren wie im Moment? Ja und nein. Ja, weil die Betriebe auch neue Wege gehen, um potentielle Auszubildende zu gewinnen. Solche Wege beinhalten professionelle PR-Massnahmen von Berufsverbänden mittels Online-Plattformen, frühe Kontakte der Betriebe zu den Schulen oder an Eltern gerichtete Informationsstrategien in Zusammenarbeit mit Berufsberatungen.

Nein, weil die betrieblichen Auswahl- und Suchstrategien teilweise problematisch geworden sind. Dies ist dann der Fall, wenn Auszubildende mit Anreizen wie Gratis Handyminuten, Gratis-SMS oder gar mit einem Gratis-Führerschein angelockt werden. Ebenso problematisch ist die zunehmende Tendenz von Betrieben, angesichts der frei bleibenden Ausbildungsplätze einfach die Anforderungen nach unten zu schrauben. Das ist meines Erachtens eine schlechte Strategie, denn sie führt nicht dazu, die geeignetsten Auszubildenden zu finden. Und das heisst in den meisten Fällen einfach diejenigen, die nicht ganz so gute Schulnoten haben, wie dies bis anhin erforderlich war. Gerade deshalb sind die Chancen, eine Lehrstelle zu finden, für einen nicht kleinen Teil der Jugendlichen – für die Leistungsschwachen – nicht besser, sondern eher schlechter, geworden.

Betriebe könnten gerade die aktuelle Situation dazu nutzen, ihre Auswahlstrategien zu überdenken. Viele Betriebe sagen nämlich, sie würden vor allem die Persönlichkeit, das Auftreten etc. und erst dann die Schulnoten gewichten. Sollte diese Aussage zutreffen, dann wäre das eine gute Nachricht für manche Realschüler. Denn viele von ihnen können ihr Potenzial (über das sie eigentlich verfügen würden) nicht ausschöpfen und in angemessenen Schulnoten realisieren. Eine Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin fördert nun zwei wichtige Erkenntnisse zutage:

  • dass Lernpotenziale, die sich nicht in Schulnoten widerspiegeln – wie etwa intellektuelle Fähigkeiten – von den Betrieben gar nicht entdeckt werden;
  • dass «Softs Skills» eine wichtige Rolle spielen.

Mit «Softs Skills» gemeint sind Persönlichkeitsmerkmale wie Gewissenhaftigkeit, Fleiss, Einsatzbereitschaft etc. Leider spielen sie nur eine Rolle bei Sekundarschülern und Bezirksschülern (oder wie diejenigen aus dem obersten Anspruchsniveau auch immer bezeichnet werden), nicht jedoch bei Realschülern. Während also Schülerinnen und Schüler mittlerer Ausbildungsniveaus ihre vielleicht schlechten Noten mit Soft Skills ausgleichen können und in der Regel sehr schnell einen Ausbildungsplatz finden, ist dies für Realschüler nicht der Fall. Denn mit grosser Wahrscheinlichkeit werden ihre Bewerbungsunterlagen wegen den schlechten Noten gar nicht berücksichtigt, und sie bekommen auch nahezu keine Gelegenheiten, ihre Soft Skills unter Beweis zu stellen. Ihnen stehen folgedessen auch viel weniger Ausbildungsberufe offen.

Oft legitimieren Betriebe solche Aussortierungen mit «mangelnder Ausbildungsreife». Mit ihrer auf Schulnoten fokussierten Strategie tragen sie jedoch dazu bei, Fähigkeiten, die jenseits schulischen Wissens vorhanden wären, langfristig ungenutzt bleiben zu lassen. Für Jugendliche, welche in der obligatorischen Schule ihr Lernpotenzial nicht entfalten konnten, bedeutet dies wiederum, dass sie auch in Zeiten des Lehrlingsmangels keine zweite Chance bekommen.

Angesichts des Fachkräftemangels in vielen Berufen, in denen Realschüler eigentlich gute Arbeit leisten könnten, stimmt dies bedenklich. Dazu kommt, dass Betriebe gerade in Zeiten des Lehrlingsmangels die Chance verpassen, jenseits von Schulnoten und zweifelhaften Anreizsystemen den Soft Skills mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Soft Skills gelten bekanntlich im Zuge des ökonomischen Strukturwandels hin zur Dienstleistungsökonomie zunehmend als wichtiges Merkmal unserer Wirtschaft.

 

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Kommentare 1

Gäste - Erwin Kugler am Donnerstag, 22. August 2013 11:48

Sehr geehrte Frau Stamm

Ganz herzlichen Dank für diese Stellungnahme im Tagi! Ich unterrichte schon viele Jahre auf einer Kleinklasse der Oberstufe - genau das sind meine Erfahrungen. Ich habe sehr viele Migrantinnen und Migranten. Viele davon ganz tolle Jugenliche - die aber grösste Mühe haben, einen Ausbildungsplatz zu finden! Das schulische Wissen wird extem überbewertet! Und jetzt will man ausländische Jugenliche holen, statt den ausländischen Jugendlichen, die schon hier sind, endlich eine faire Chance zu geben - lebe ich eigentlich in Seldwyla (die waren zwar gar nicht so dumm).

Sehr geehrte Frau Stamm Ganz herzlichen Dank für diese Stellungnahme im Tagi! Ich unterrichte schon viele Jahre auf einer Kleinklasse der Oberstufe - genau das sind meine Erfahrungen. Ich habe sehr viele Migrantinnen und Migranten. Viele davon ganz tolle Jugenliche - die aber grösste Mühe haben, einen Ausbildungsplatz zu finden! Das schulische Wissen wird extem überbewertet! Und jetzt will man ausländische Jugenliche holen, statt den ausländischen Jugendlichen, die schon hier sind, endlich eine faire Chance zu geben - lebe ich eigentlich in Seldwyla (die waren zwar gar nicht so dumm).
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