Das Gymnasium als Privileg der Schichten, die schon Bildung haben

TEIL I des Essays im Folio der NZZ, 03.05.2021, S. 58-61

Es muss nicht jeder und jede ins Gymnasium, manche wären in einer Berufslehre besser aufgehoben. Die Berufsbildung braucht dringend leistungsstarke Jugendliche! Diese Argumentation ist richtig, doch gilt sie vor allem für solche mit praxisorientierten Begabungen, die sich weniger für akademische Inhalte begeistern können oder die Matura nur mit Ach und Krach hinkriegen. Umgekehrtes trifft für eine nahezu vergessene Gruppe zu: Intellektuell begabte und interessierte Kinder aus Arbeiter- und einfachen Migrantenfamilien schaffen viel zu selten den Bildungsaufstieg ins Gymnasium. Solche Minoritäten hätten zwar das Potenzial für den Übertritt, bekommen aber keine angemessene Gelegenheit dazu. Empirische Daten machen dies mehr als deutlich. Haben die Eltern studiert, tun dies 88 Prozent der Kinder auch, aus Arbeiterfamilien schafft es hingegen nur knapp jedes vierte Kind (24 Prozent). Und für gerade mal vier Prozent trifft dies zu, wenn der Vater keinen Bildungsabschluss hat. Der Zustrom zur Akademia nährt sich somit immer noch vor allem vom Nachwuchs gut situierter Familien.

Gymnasium und Universität sind weitgehend das Privileg der Schichten geblieben, die schon Bildung haben. Deshalb geht unserer Gesellschaft jedes Jahr ein grosses Reservoir an intellektuellem Potenzial begabter Minoritäten verloren. Noch immer entscheidet nicht der Grips, wer es ins Gymnasium schafft, sondern vor allem die Herkunft. Dahinter steckt ein Gerechtigkeitsproblem. Das meritokratische Versprechen, wonach die individuelle Leistung den Status und den Erfolg einer Person bestimmt, ist ein Ideal geblieben. Die Distanz zur Realität ist beträchtlich.

Chancenungleichheit wird kaschiert

Unser Bildungssystem hält nicht, was es verspricht. Trotz grosser Anstrengungen der Bildungsexpansion in den siebziger und achtziger Jahren haben sich die Chancen für Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen Sozialschichten bisher nicht angeglichen. Die Chancenungleichheit ist sogar grösser geworden, weil der Schulerfolg noch stärker als früher von der Herkunft abhängig ist. Spätestens seit den PISA-Studien wissen wir, dass hierzulande die Bildungschancen deutlich ungleicher verteilt sind als in vielen anderen Ländern. Arbeiterkinder, die das Rüstzeug fürs Gymnasium mitbringen würden, landen zu oft in hierarchisch tieferen Schulniveaus, nicht weil sie dumm sind, sondern weil dieser Weg einfacher ist als Hochkämpfen.

Solche Fakten werden oft mit zwei Legitimationsmustern kaschiert. Erstens ist es der vor allem bei Bildungspolitikerinnen und -politikern beliebte Verweis, dass unser Bildungssystem zu den durchlässigsten der Welt gehöre. Wer es nicht ins Gymnasium schaffe, könne später trotzdem ein Hochschulstudium absolvieren. Zweitens ist die Überzeugung weit verbreitet, dass Väter und Mütter mit keiner oder nur einer Berufslehre sowieso nicht in der Lage seien, ihren Kindern im Gymnasium zu helfen, weshalb sie in der Sekundarschule besser aufgehoben seien. Beide Hinweise sind richtig, die damit verbundenen Argumentationsmuster aber falsch.

Mit einer Berufslehre und einer Berufsmaturität wird ein Studium an einer Fachhochschule möglich, so das erste Muster. Das ist längst der Ausbildungskönigsweg für junge Menschen aus durchschnittlichen Verhältnissen geworden. Und diese neue Form von Durchlässigkeit hat auch zumindest teilweise zum Abbau der sozialen Ungleichheit beim Hochschulzugang beigetragen. Währendem an Universitäten vier von fünf jungen Menschen aus akademischen Elternhäusern studieren, sind es an den Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen immerhin ein gutes Drittel. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, doch darf sie nicht schöngeredet werden. Es kann nicht sein, dass die neue Durchlässigkeit als Alibi benutzt wird, intellektuell begabte Arbeiterkinder in die Berufsbildung mit dem Hinweis auf die Möglichkeit eines späteren Fachhochschulstudiums abzudrängen, währendem Söhne und Töchter aus Akademikerfamilien unhinterfragt wieder Akademiker werden.

Auch das zweite Legitimationsmuster hat seine argumentativen Lücken. Es setzt zu sehr auf die Erwartung, dass Eltern die Lernleistung ihrer Kinder festigen helfen sollen und diese «verantwortete Elternschaft» die Grundlage für eine erfolgreiche Schullaufbahn sei. Dem widersprechen fast alle Untersuchungen der frühkindlichen Bildungsforschung. Sie weisen nach, dass Kinder mit einem sehr unterschiedlichen Rucksack an Startkapital und familiären Unterstützungsmöglichkeiten ins Bildungssystem eintreten, dann aber entsprechend ihrer sozialen Herkunft so sortiert werden, dass Arbeiterkinder in die Sekundar- oder Realschule, Akademikerkinder ins Gymnasium gelenkt werden.

Jeder ist seines Glückes Schmied: eine zu einfache Botschaft

Dieses problematische Phänomen lässt sich nicht dadurch in den Griff kriegen, indem man gut situierten Eltern einredet, sie sollten ihre Bildungsambitionen herunterfahren. In einer demokratischen Gesellschaft kann man bildungsambitionierte Väter und Mütter nicht daran hindern, ihre Ressourcen einzusetzen, um die Bildungslaufbahn der Kinder zu fördern. Ihre Absichten sind legitim. Die Achillesferse liegt vielmehr in der fehlenden Unterstützung begabter Kinder aus einfachen Sozialschichten und in der meist zu grossen Zurückhaltung ihrer Familien. Oft wollen sie ihr Kind vor einem gymnasialen Bildungsweg bewahren, nur weil sie befürchten, es könnte sich emotional, intellektuell und strategisch von ihnen entfernen.

An solche Sachverhalte haben wir uns gewöhnt. Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum an Apéros die Problematik von Arbeiterkindern und Gymnasium auffallend schnell mit der Metapher «Jeder ist seines Glückes Schmid» relativiert wird. Alle jungen Menschen aus bescheidenen Verhältnissen, so die Botschaft, könnten es hierzulande mit genug Fleiss, Anstrengung und Hartnäckigkeit zu etwas bringen!

Erfolgreiche Arbeiterkinder sind deshalb beliebte Medienobjekte, weil man ihre Geschichten nicht nur bewundern, sondern auch mit dem salbungsvollen Schlagwort «Aufstieg durch Bildung» legitimieren kann. Doch solche märchenhaften Schilderungen verdecken die Realität. Ein Arbeiterkind, das es – wie die Amerikaner sagen – Against all Odds ans Gymnasium schafft, hat nicht einfach trotz hoher Intelligenz zusätzlich hart gearbeitet, sondern auch viel Glück gehabt.

Warum ist dem so? Zur Erklärung gibt es theoretische Modelle, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit einen gemeinsamen Nenner haben. Sie erklären die bestehenden Ungleichheiten vor allem mit familialen Merkmalen sowie den Einflüssen der Schule. Zum einen ist es der Bildungsstand der Eltern, der über Erziehungsstil, Anregungsgehalt und private Förderung die Kompetenzen der Kinder beeinflusst. Er macht bereits beim Eintritt in den Bildungsraum nicht nur die Spreizung der individuellen Leistungsunterschiede zu Gunsten von Kindern aus gut situierten Familien sichtbar, sondern auch ihren spezifischen «Habitus». Dieser Lebensstil kann sich im elaborierten Wortschatz manifestieren, der Kleidung, den ausgewählten Hobbys und dem Freundeskreis, den die Eltern oft handverlesen zusammenstellen. Ausgerüstet mit solchen kulturellen Merkmalen entsprechen diese Kinder den mittelschichtsorientierten Bildungsidealen der Schule. Arbeiterfamilien haben häufig andere Erziehungsziele und Vorstellungen, was gutes kindliches Verhalten respektive Schulerfolg ist. Manche Arbeiterkinder fühlen sich deshalb in der Schule anders als Kinder höher gebildeter Eltern und müssen ihr Sprach- und Verhaltenssystem an die kontrastierende Schulumgebung anpassen. Das gelingt ihnen unterschiedlich.

«Wer ins Gymnasium geht und studiert, weiss nicht, was arbeiten heisst»

Zudem fallen die Auswirkungen von familiären Bildungsentscheidungen je nach sozialer Schicht unterschiedlich aus und erklären, weshalb Kinder aus gut situierten Verhältnissen anspruchsvolleren und kostspieligeren Bildungswegen zugewiesen werden, auch wenn sie sich nicht von Kindern aus einfachen Verhältnissen unterscheiden. Geht es ums Gymnasium verfügen gebildete Väter und Mütter über eine grössere Bildungsmotivation, fürchten sich kaum vor Investitionsrisiken und gewichten auch das Sozialprestige höher als Arbeiterfamilien. Diese kennen das Gymnasium nicht aus eigener Erfahrung, schätzen die Zugangshürden als sehr hoch ein und schrecken vor den erwarteten Investitionskosten zurück, was sich in einer deutlichen Skepsis gegenüber akademischer Bildung äussern kann. Er zeigt sich im «Habitus der Notwendigkeit» der ein Verhalten meint, das sich an der Verwertbarkeit der Ausbildung orientiert. Solche Eltern wünschen sich, ihre Kinder sollten wie sie eine Berufslehre absolvieren und relativ schnell eigenes Geld verdienen. Dieser Verwertbarkeitsgedanke kann den intellektuellen Bildungshorizont von Arbeiterkindern deutlich einschränken.

Selbstverständlich gibt es Arbeiterfamilien, die stolz sind auf ihr smartes Kind, das Gymnasium unterstützen und alles dafür tun, ihm diesen Schritt zu ermöglichen. Doch je niedriger die Bildungsorientierung der Familie, desto deutlicher ist die skeptische Haltung. Aussagen wie «Wer ins Gymnasium geht und studiert, weiss nicht, was arbeiten heisst» werden zu einem schlechten Fundament für junge Menschen, die als erste in der Familie überhaupt darüber nachdenken, das Gymnasium und einen akademischen Bildungsweg in den Blick zu nehmen. Zweifel, ein geringes Selbstbewusstsein und Angst vor dem Scheitern sind als Aufstiegsängste vorprogrammiert. 

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