Der harte Weg an die Spitze

erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 06.02.2017, 16.

 

Wir sind Spitze! In keinem anderen Bereich hat die Schweiz in Wettbewerben so viele Medaillen gewonnen wie in der Berufsbildung. Und kürzlich war es wieder so weit: Unsere Delegation holte in Göteborg den Europameistertitel in der Nationenwertung. Was für eine Genugtuung für die Berufsbildung, welche mit Attraktivitätsproblemen und Schwierigkeiten zu kämpfen hat, gute Lehrlinge zu finden!

Umso mehr erstaunt, dass Berufsmeisterschaften so selten als Ausbildungselemente auf dem Weg zur beruflichen Karriere genutzt werden und Lehrlinge sie sehr oft gar nicht kennen. Auch Fachleute der Berufsbildung wissen wenig über diese Praktikerelite: Was steckt eigentlich hinter Medaillengewinnern? Wie wird man so erfolgreich? Sind sie einfach kluge Köpfe mit goldenen Händen? Solchen Fragen sind wir in Studie nachgegangen, die übermorgen veröffentlicht wird.

Schulnoten sagen eben wenig über das Entwicklungspotenzial aus

Talent ist nicht angeboren, dies ist das wichtigste Ergebnis der Untersuchung. Wer es an die Spitze seiner Berufsbranche schafft, ist in der obligatorischen Schule längst nicht immer ein guter Schüler gewesen. Drei Viertel waren lediglich mittelmässig oder gar schlecht und dazu oft noch faul. Und viele können auch mit keinem hohen Schulabschluss punkten. Vierzig Prozent haben nur einen mittleren, zwanzig Prozent sogar einen niedrigen Abschluss, also einen der Realschule. Solche Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die vielen Klagen von Betrieben, sie würden nicht genügend «gute» Lehrlinge finden. Schulnoten oder ein hoher Schulabschluss sagen eben wenig über das Entwicklungspotenzial aus, das in einem jungen Menschen steckt. Unsere Medaillengewinner sind das beste Beispiel dafür, dass die Berufslehre für viele nicht nur zur zweiten Chance geworden ist, sondern auch zu Leistungsexplosionen geführt hat. Aber nur, weil ihnen die Betriebe überhaupt eine Chance gegeben haben!

Medaillengewinner sind nicht einfach Glückspilze

Sind die Medaillengewinner somit Glückspilze, denen alles in die Wiege gelegt worden ist? Wer so denkt, liegt vollkommen falsch. Der Weg zur Praktikerelite ist enorm zeitintensiv, entbehrungsreich und erfordert ein hohes persönliches Engagement. Dies steht in einem deutlichen Gegensatz zu dem, was man über «die heutige Jugend» liest. Verwöhnt, konfliktscheu, opportunistisch und flatterhaft sei sie. Solche Vorurteile sind unfair, weil viel zu einseitig. Vier Fünftel unserer Erstplatzierten haben sich auch an den Wochenenden vorbereitet, teilweise deshalb, weil der Betrieb hierfür kein Zeitfenster zur Verfügung stellte. Sie haben auf Freizeit verzichtet, Ferientage oder sogar unbezahlte Ferien bezogen. Doch hinter jeder Medaille steckt auch ein unterstützendes Umfeld, vom Lehrbetrieb über die Berufsfachschule bis hin zu den Experten. Aber die wichtigste Stütze – und dies ist erstaunlich – ist das Elternhaus – die Mutter sogar mehr als der Vater. Auch jenseits des Jugendalters ist der Rat der Eltern am wichtigsten.

57 Prozent der Medaillengewinner sind beruflich markant aufgestiegen

Diese Erkenntnis ist für die Attraktivitätsproblematik der Berufsbildung bedeutsam. Zwar wissen wir schon lange, dass die Eltern bei der Berufswahl die heimlichen strategischen Meinungsmacher sind – auch hier wiederum in erster Linie die Mütter – und bereits in der fünften Klasse entscheiden, ob die Berufslehre oder das Gymnasium das Tor zur Berufskarriere werden soll. Unsere Ergebnisse sollten Väter und Mütter deshalb besonders ansprechen: Wer eine Lehre macht und sich dann auf eine Berufsmeisterschaft konzentriert, hat die Karriere auf sicher. 57 Prozent der Medaillengewinner sind beruflich markant aufgestiegen und zur Hälfte bereits in einer Leitungsposition, mehr als 80 Prozent haben Weiterbildungen in Angriff genommen, und fast alle bezeichnen sich selbst als Vorbild für die junge Generation.

Berufswettbewerbe sind ein besonders wichtiges Instrument für die Förderung der Praktikerelite. Aber solche Massnahmen greifen nur, wenn sie in ein Talentmanagement eingebettet werden, also in die frühe, systematische Suche und gezielte Förderung von Potenzialen – unter Einbezug des Elternhauses. Weil Potenziale jedoch oft verborgen und kaum lediglich an Noten erkennbar sind, kommt jede PR-Massnahme zur Attraktivitätssteigerung nicht um einen Perspektivenwechsel herum: weg vom Blick auf die Schwächen, hin zur Suche nach Stärken! 

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