Der Kindergarten droht zu verschulen

Erinnern Sie sich? Am 24. November 2012 hat sich das Zürcher Stimmvolk mit 199 232 Nein zu 89 232 Ja gegen die Grundstufe ausgesprochen. Sie hätte Kindergarten und erste Klasse zusammengeführt und so ein neues Schuleingangsmodell implementiert, in welchem Kinder ihrem Entwicklungsstand entsprechend hätten gefördert werden können. Nachdem bereits zuvor das Modell in anderen Kantonen sistiert worden war, ist die Grundstufe damit mehrheitlich gestorben. Daraus lässt sich schliessen, dass der traditionelle Kindergarten offensichtlich einen Sympathiebonus hat, welcher der Bevölkerung nahesteht.

Seitdem ist es still geworden um den Kindergarten. Darüber wundere ich mich, vor allem deshalb, weil eine gewisse Verschulungstendenz eindeutig ist, diese aber nicht stärker diskutiert wird. Das Stillschweigen hierzu ist heimtückisch, denn mit der zu Grabe getragenen Grundstufe sind die Probleme keinesfalls gelöst. Vielleicht ist sich die Öffentlichkeit gar nicht bewusst, was unbemerkt im pädagogischen Alltag vieler Kindergärten abläuft: Er droht zu verschulen. Mit Verschulung gemeint ist die Vorverlagerung schulischer Inhalte und methodisch-didaktischer Methoden in den «Vorschulbereich» – eben in den Kindergarten. Tatsache ist zumindest, dass in immer mehr Kindergärten Programme oder «Koffer» eingesetzt werden, mit denen Kindern besondere Kompetenzen vermittelt werden sollen (z.B. im Bereich der mathematischen Bildung oder der Gewaltprävention). Immer öfters werden Arbeitsblätter eingesetzt, die manchmal von Schulen empfohlen werden. Die Kinder werden immer häufiger getestet bzw. systematisch beobachtet, um ihre «Leistung» in verschiedenen Entwicklungsfeldern zu messen. Es wird immer öfters nach einem detaillierten Zeitplan gearbeitet, bestimmte Bildungsbereiche («Fächer») werden nacheinander «abgearbeitet». Nicht selten geschieht dies anhand schulischer Methoden.

Weshalb dem vermehrt so ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Glauben Kindergartenlehrpersonen vielleicht, mehr gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren, wenn sie sich am Rollenmodell «Lehrer/Lehrerin» orientieren? Haben sie Angst, weiterhin als «Spiel- und Basteltanten» (die zudem noch weniger verdienen (was ein Skandal ist!!) verunglimpft zu werden? Will die Politik mit einer Verschulung des Kindergartens die Akademisierung der Ausbildung legitimieren? Oder ist die Ursache vielleicht vor allem darin zu suchen, dass immer mehr Eltern auf die Schulfähigkeit ihrer Kinder fokussieren und von den Kindergartenlehrpersonen schulvorbereitende Angebote fordern? Oder liegt es schlicht daran, dass das «Spielen» kaum noch in den Lehrplänen und noch weniger in der frühpädagogischen Fachliteratur thematisiert wird oder dann lediglich in der Form eines reinen Lippenbekenntnisses, wonach das Spiel die kindgemässe Form des Lernens sei?

Problematisch ist diese Verschulungstendenz vor allem deshalb, weil angesichts der früheren Einschulung, welche durch HarmoS Realität wird, die Kinder im Kindergarten immer jünger werden. Allein schon diese entwicklungspsychologische Tatsache würde eigentlich bedingen, dass neue und andere als die schulischen didaktischen Konzepte erforderlich sind. Ein vier- und fünfjähriges Kind lernt ganz anders als ein sechs- oder siebenjähriges Kind. Erfreulich ist allerdings, dass das Verbot, im Kindergarten lesen und/oder rechnen lernen zu dürfen, aufgehoben worden ist. Der Kindergarten ist heute ein Bildungsraum, der einer sehr unterschiedlichen Klientel gerecht werden muss. So hat sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass gerade Kinder aus sozial schwachen Familien oder solche mit benachteiligendem Migrationshintergrund von schulvorbereitenden Massnahmen im Kindergarten enorm profitieren können. Der Kindergarten kann somit kaum mehr ein Ort des Wachsen- und Reifenlassens sein. Aber: Wer ihn als Vorschule definieren und ihn mit den gleichen Methoden wie die Schule ausstaffieren will, liegt falsch.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich plädiere zwar dafür, dass der Kindergarten einen eigenen Bildungsauftrag hat und die Kinder lesen und rechnen lernen dürfen sollen. Aber er sollte sich auch bemühen, die Grundlagen für schulische Lernprozesse jenseits einer traditionellen Schuldidaktik zu liefern. Deshalb soll im Mittelpunkt des Bildungsauftrags des Kindergartens das spielerische Lernen stehen. Das Spiel ist die wichtigste Grundlage für das kognitive Lernen, für die Entwicklung von Neugier, Experimentierungsfreude und aktives Lernen. Diese Merkmale sind zentral und lebensbestimmend. Hierzu gibt es übrigens ein paar Leuchttürme, so genannte Best Practice-Modelle, die in unserer PRINZ-Studie eingehend vorgestellt werden*.

Leider werden Spielen und Lernen immer noch als unterschiedliche Phänomene betrachtet, obwohl es sich dabei um eine längst überholte Sichtweise handelt. Deshalb wird Spielen häufig mit Zeitvertreib, mit Langeweile oder gar mit unnützem Tun, verbunden. Dies ist grundsätzlich falsch, denn Spielen und Lernen gehören immer zusammen. Je spielhaltiger das Lernen im Vorschulalter ist, desto nachhaltiger ist es. Engagiertheit im Spiel ist Voraussetzung für gelingende Bildungsprozesse. Bei Eltern – und oft auch im Kindergarten – viel zu wenig bekannt ist die Tatsache, dass Spielen durch Impulse der Erwachsenen angeregt und deshalb «gelernt» werden kann und muss. Erwachsene sind deshalb für die Entwicklung der kindlichen Spielfähigkeit unersetzlich.

Nicht alle Kinder können von sich aus Neugier oder Konzentrationsfähigkeit entwickeln, vor allem solche nicht, welche aus sozial belasteten Familien stammen oder auch Kinder aus ausgesprochen förderorientierten Familien, welchen das Spiel fast verboten wird, weil es als unnütz gilt. Solche Kinder müssen spezifisch dort abgeholt werden, wo sie stehen und provokativ an Bildungsprozesse herangeführt werden. Sie brauchen mehr Vorbilder, mehr Anleitung und weniger selbstverantwortliches Lernen. Genau in diesem Sinne ist «Schulvorbereitung» für solche Kinder wichtig.

Darf somit eine Kindergartenpädagogik ‚Schulvorbereitung‘ in den Blick nehmen? Die Antwort lautet: Ja, sie darf und sie soll, aber auf ihre eigene Weise! Eine grosse Herausforderung des Kindergartens ist es, das Primat des spielerischen Lernens zu verteidigen und sich gleichzeitig der Herausforderung einer eigenen, nicht lediglich von der Schule kopierten Didaktik zu stellen.

* Stamm, M. (2014). Best Practice in Kitas und Kindertagesstätten. Bern: Forschungsinstitut Swiss Education. http://www.margritstamm.ch/component/docman/cat_view/4-dossiers.html?Itemid=

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Kommentare 1

Gäste - Hannah (website) am Freitag, 26. Dezember 2014 15:57

Hallo!

Ein sehr interessanter Beitrag, ich kann deine Meinung nur unterstützen! Ich arbeite als Logopädin in Österreich, wo die Kinder vor Schuleintritt hinsichtlich ihrer sprachlichen Fähigkeiten gescreent werden. Ist ein Kind auffällig (Aussprachefehler, geringer Wortschatz, auffällig Grammatik, soziale und kommunikative Schwierigkeiten, etc.), erfolgt eine logopädische Therapie. Diese ist aber auch in einen spielerischen, alltagsbezogenen Kontext eingebettet - und niemals reines, explizites "Übungslernen"!
Ist das Kind mit Interesse dabei, lernt es am Effektivsten. Im Spiel erweitert das Kind sowohl seine kommunikativen, sozialen und kognitiven Kompetenzen. Ich finde es sehr wichtig, dass ein Kind niemals die Freude am Erlernen neuer Fähigkeiten und Wissensinhalte verlernt - weder schon im Kindergarten, noch im schulischen Kontext!

Hallo! Ein sehr interessanter Beitrag, ich kann deine Meinung nur unterstützen! Ich arbeite als Logopädin in Österreich, wo die Kinder vor Schuleintritt hinsichtlich ihrer sprachlichen Fähigkeiten gescreent werden. Ist ein Kind auffällig (Aussprachefehler, geringer Wortschatz, auffällig Grammatik, soziale und kommunikative Schwierigkeiten, etc.), erfolgt eine logopädische Therapie. Diese ist aber auch in einen spielerischen, alltagsbezogenen Kontext eingebettet - und niemals reines, explizites "Übungslernen"! Ist das Kind mit Interesse dabei, lernt es am Effektivsten. Im Spiel erweitert das Kind sowohl seine kommunikativen, sozialen und kognitiven Kompetenzen. Ich finde es sehr wichtig, dass ein Kind niemals die Freude am Erlernen neuer Fähigkeiten und Wissensinhalte verlernt - weder schon im Kindergarten, noch im schulischen Kontext!
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