Die Hochleistungsgesellschaft überfordert viele Kinder

erschienen in der NZZ, 28.05.2021

Mama und Papa sind die überehrgeizigen Schuldigen, welche ihren Nachwuchs ins Gymnasium pushen und um jeden Preis seine Leistungsfähigkeit maximieren wollen. Deshalb schleifen sie ihn so lange, bis er ihren Vorstellungen entspricht.

Diese These ist verbreiteter denn je, trotzdem ist sie zu einseitig. Das Hauptproblem liegt nicht in erster Linie bei Vätern und Müttern, sondern eher in der Hochleistungsgesellschaft. Als deren Abbild setzt das Bildungssystem auf immer höhere Bildungsabschlüsse und betont gleichzeitig die «verantwortete Elternschaft», d.h. dass Eltern die Leistungsbereitschaft des Nachwuchses fördern und kontrollieren sollen. Dazu gehören die Begleitung oder sogar Kontrolle von Hausaufgaben, die Unterstützung bei der Erstellung von Referaten und Power-Point-Präsentationen oder die Vorbereitung auf Prüfungen. Dass manche Mütter und Väter deshalb ihre Antennen dauernd ausgefahren haben und sich permanent in Startposition bringen, wirkt wie eine logische Reaktion auf solche Erwartungen.

Das Bildungssystem beschleunigt den Elternehrgeiz

Optimierung hat das Schicksal abgelöst, das Durchschnittliche wird kaum mehr toleriert. Das ist keine Weisheit, die Eltern erfunden haben, sondern ein Entwicklungsimperativ unserer Gesellschaft, dem sich zu entziehen schwierig geworden ist. Manche Mütter und Väter schicken sich fast unhinterfragt in die ihnen zugedachte Rolle als Maximierer der kindlichen Entwicklung. Das ist kaum erstaunlich, werden sie doch für alles verantwortlich gemacht. Eltern-Determinismus ist der wissenschaftliche Begriff dafür. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass die Leistungsfähigkeit des Kindes und die Fähigkeit der Eltern, gute Eltern zu sein, kausal verknüpft sind. Zeigen sich Probleme in der kindlichen Entwicklung, sind die Eltern schuld. Deshalb liegt der Fehler bei ihnen, wenn sich der Schulerfolg nicht wie erwartet einstellt. Gleichzeitig gilt ein leistungsfähiges Kind als Verdienst der Eltern.

Das Bildungssystem beschleunigt diesen Elterndeterminismus und damit den Elternehrgeit. Vier Beispiele: die frühe Förderung als gezielte Schulvorbereitung, die Verschulung des Kindergartens, der fixe Blick auf Noten als Leistungsprodukte sowie der Trend zur Akademisierung.

Frühe Förderkurse haben Hochkonjunktur und ebenso die Werbung dafür. Dahinter verbirgt sich die Philosophie, dass Kinder nahezu alles lernen können, wenn es nur gut arrangiert ist. Schon für die Allerkleinsten gibt es Lern-DVDs mit vielversprechenden Namen wie «Baby-Einstein». Dass solche Kurse oft schon lange im Voraus ausgebucht sind, ist nachvollziehbar. Denn die Werbung der Anbieter ist meist mit düsteren Zukunftsaussichten verbunden: Was Hänschen nicht lernt, wird für Hans nimmermehr der Fall sein können. Darum soll die frühe Kindheit zu einem Treibhaus werden, in dem jedes Kind nach Belieben wie ein Diamant geschliffen wird, um es maximal leistungsfähig zu machen.

Die «Leistung» der Kindergärtler wird zunehmend «gemessen»

Der nächste Schritt ist der Eintritt in den obligatorischen Bildungsraum – sprich Kindergarten. Hier wird zum ersten Mal deutlich, was das Bildungssystem von Kindern erwartet. Kaum mehr im freien Spiel sollen sie sich entfalten, sondern in einer schulähnlich organisierten und durchdidaktisierten Lernkultur. Dies wäre an sich noch nicht problematisch. Fragewürdig scheint vor allem die zunehmende Tendenz, dass die «Leistung» der Kindergärtler mit mehrseitigen Standortbestimmungen «gemessen» und in Elterngesprächen besprochen wird. Bildungsverantwortliche unterstreichen zwar, dass solche Kompetenzraster allein der Entwicklungsförderung des Kindes dienen sollen. Doch bei vielen Eltern kommt diese Massnahme als kindliche Vermessung an, die sie mit der Frage verbinden: Sind die anderen Kinder besser als unser Kleiner? Oder müssen wir ihn noch mehr optimieren? Somit ist es keineswegs überraschend, wenn sich Mütter und Väter ab dem Kindergarten für den Schulerfolg ihres Kindes mitverantwortlich fühlen und auf Unterstützungsmassnahmen pochen, wenn es als etwas langsamer, verträumter und verspielter als die anderen Kinder eingeschätzt wird.

Drittens sind es die Testkultur in den Schulen und der Fokus auf das Leistungsprodukt, die Noten. Darum konzentrieren sich viele Elternhäuser auf die Noten des Sprösslings, aus denen sie seine Fähigkeiten ablesen und ihn nicht selten unter Druck setzen. Glücklicherweise gibt es Leuchtturmschulen, welche sich eher an intrinsisch motivierten Lernprozessen und überfachlichen Kompetenzen wie Selbstorganisation, Beharrlichkeit und Frustrationstoleranz orientieren. Trotzdem schaffen die Flut testorientierter Massnahmen und die Fixierung auf Noten einen nicht zu übersehenden Konkurrenzdruck. Das Bildungssystem erweckt damit den unbeabsichtigten Eindruck, Noten und Testleistungen seien für einen erfolgreichen Übertritt in eine höhere Bildungsstufe viel wichtiger als alle anderen Kompetenzen.

Das Gymnasium als Statussymbol

Damit verbunden ist der vierte Punkt, der Trend zur Akademisierung. Wer Kindergärtner oder Hebamme werden will, braucht eine Matura. Die Mehrheit internationaler Unternehmen will nur noch Leute mit einem Hochschulabschluss einstellen. Parallel dazu sind viele Abschlüsse entwertet worden. Realschulzeugnisse zählen weniger als noch vor ein paar Jahren. Auch Studienabschlüsse sind zwar wichtiger, aber weniger wert. Ein Bachelor ist Voraussetzung für viele Berufe, aber längst keine Karrieregarantie mehr. Diese Entwicklung ist unter anderem eine Ursache dafür, weshalb in manchem Elternhaus das Gymnasium zum Statussymbol geworden ist und als Wettbewerbsvorteil gilt. Deshalb müssen die Noten im Quervergleich mindestens gleich gut oder besser sein als die Noten der anderen. Und um besser zu sein braucht es überdimensionierte Anstrengungen mit dem Ergebnis, dass sich manche Kinder zu Überleistern entwickeln sollen. Überleister sind solche, die mehr leisten müssen als sie eigentlich aufgrund ihrer Fähigkeiten imstande wären. Dieses Phänomen betrifft bei weitem nicht nur Kinder auf dem Weg zum Gymnasium oder den Verbleib an ihm, sondern auch Langsamlerner mit deutlichen Leistungsschwächen, deren Eltern mit allen Mitteln auf die Sekundarschule pochen oder Kinder mit Lernschwierigkeiten, welche nonstop zu guten Leistungen angehalten werden.

Dies alles trägt dazu bei, junge Menschen in einen Weg zu drängen, der mit Angst vor Misserfolgen und Nichtgenügen gepflastert ist, Möglichkeiten zur Selbstbestimmung beiseite schubst und Kinder in ihrem Selbstvertrauen lähmt. Solche Erfahrungen haben die Aufwachsbedingungen unserer Jugend in den letzten beiden Jahrzehnten drastisch verändert.

Das Problem des ausgepressten Leistungspotenzials

Um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht nicht um eine Aufforderung zum Mittelmass! Weder Hochleistung noch hohe Erwartungen von Schulen, Lehrkräften und Eltern sind per se negative Phänomene. Hohe Erwartungen sind für eine erfolgreiche schulische Laufbahn wichtig – dies ist eine wissenschaftlich vielfach bestätigte Tatsache. Es gibt hochleistende Kinder, die gerne zur Schule gehen, seelisch in ausgewogener Verfassung sind und ein gutes Selbstwertgefühl haben. Sie sind intrinsisch motiviert und wissensdurstig, so dass sie von Eltern und Lehrkräften manchmal fast gebremst werden müssen. Doch solche Kinder gibt es eher wenige.

Das Hauptproblem mancher Kinder liegt im ausgepressten Leistungspotenzial. Diese Situation hat Konsequenzen, die weiterreichen als der Blick auf ihre oftmals überforderten Psychen. Im Zentrum steht die Optimierungs- und Hochleistungskultur, die zum gesellschaftlichen Mandat geworden ist. Es hat vom Bildungssystem auf Familien und Kinder übergegriffen und will uns weis machen, dass es normal ist, wenn Kinder so viel leisten müssen. Gäbe es nicht die permanente Nachhilfe und Lernstudios, die Coachingangebote und die verschiedensten Therapien, könnte der Nachwuchs die an ihn herangetragenen Leistungserwartungen kaum mehr stemmen. 

Es ist an der Zeit, einen Diskurs über das Hoch- und Überleistersyndrom zu führen und es mit den Vorgaben des Bildungssystems in einen Zusammenhang zu bringen. Erst wenn wir die Fixpunkte unserer Optimierungsgesellschaft hinterfragen, kann deutlich werden, dass weder Intelligenz noch Schulnoten das Mass aller Dinge sind, sondern die Entwicklung des authentischen Kindes. Authentische Kinder haben nicht nur ein Recht auf Bildung, sondern auch ein Recht auf die Entwicklung des ihren Fähigkeiten angemessenen Leistungspotenzials – aber auch ein Recht darauf, nur durchschnittlich sein und auch mal scheitern zu dürfen. 

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