Jugendliche dürfen auch scheitern

erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 10.12.2021, 2.


«Try again. Fail again. Fail better.» Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern. Scheitern ist unumgänglich, und die Kunst besteht darin, nicht aufzugeben. Diese geflügelten Worte von Samuel Beckett spiegeln sich in manchen Lebenshilfebüchern wie «Die Kunst des Scheiterns». Sie richten sich an Menschen, die im Management tätig sind oder auch an Otto Normalverbraucher. Doch Scheitern in Schule und Ausbildung? In unserer Optimierungsgesellschaft ist das ein Tabu.

Fehlschläge werden unbedingt vermieden

Manche von uns kennen Misserfolge aus der eigenen Bildungslaufbahn. Und nicht wenige haben erlebt, dass sich aus einer scheinbaren Niederlage etwas ungeahnt Neues entwickeln kann. Geht es allerdings um den eigenen Nachwuchs, spricht man über sein Scheitern nur hinter vorgehaltener Hand. Das hat mit der Auffassung von Bildungserfolg zu tun. Kontinuierliche Hochleistungen gelten heute als Wegmarken eines erfolgreichen Bildungsweges, weshalb gute Noten und ein akademischer Schulabschluss zum Statussymbol geworden sind. Rüstet man den Nachwuchs mit der besten Bildung aus, dann ist er ein für alle Mal vor späteren Risiken immunisiert. Diese verbreitete, aber falsche Meinung führt dazu, dass Fehlschläge unbedingt vermieden werden und ein Scheitern unerwünscht oder gar verboten ist.

Heranwachsende spüren wie Seismografen, was von ihnen erwartet wird. Doch wer nimmt ihnen die Angst vor diesem Druck? Und sagt ihnen überhaupt jemand, dass manche erfolgreiche Erwachsene den Weg erst über Fehlschläge gefunden haben? Dass Fehlschläge bedeutsam sind und nicht nur ein Unfall? Schon lange verweist die Forschung darauf, dass Misserfolge für die Persönlichkeitsentwicklung und für die Herausarbeitung einer Berufsidentität förderlich sind. Doch das Vermeiden jeglichen Versagens hat schädliche Auswirkungen auf junge Menschen, weil so aus «verbotenen» Misserfolgen fast immer Schuldgefühle resultieren. Darum entwickeln viele Jugendliche Gefühle und Ängste, nichts wert zu sein und als Versager abgestempelt zu werden.

Die Chancen des Scheiterns erkennen

Der Tunnelblick auf den unbedingten Bildungserfolg verhindert, die Chancen des Scheiterns zu erkennen. Geht es nach dem Philosophen Charles Pépin, können Misserfolge den Willen befeuern, den eingeschlagenen Weg trotz allen Widrigkeiten durchzuziehen. Das trifft dort zu, wo sich begabte Jugendliche aus einfachen Verhältnissen hochkämpfen und trotz eines Realschulabschlusses später die Matura nachholen. Genauso kann ein Scheitern das Loslassen ermöglichen und Auftrieb dafür geben, die bisherige Laufbahn zu verlassen und einen Richtungswechsel vorzunehmen. Beispielsweise, wenn eine Gymnasiastin spürt, dass der von den Eltern vorgegebene akademische Weg nichts für sie ist und sie sich für eine Berufslehre als Schreinerin entscheidet.

Junge Menschen haben ein Recht, Erfahrungen des Scheiterns zu machen. Solche Erfahrungen lassen sie erkennen, dass ihnen etwas gegenübersteht, das Wirklichkeit heisst. Weil das Scheitern dem Leben innewohnt, ist es ein wichtiger Teil des Eltern- und Lehrerjobs, Fehler und Misserfolge zuzulassen und junge Menschen im Glauben an sich selbst zu stärken. Einfach ist das nicht, denn es braucht ein Fundament für den Umgang mit Fehlschlägen. Heranwachsende, denen alles in den Schoss geworfen und aus Ängstlichkeit jedes Hindernis aus dem Weg geräumt wird, fehlt dieses Fundament. Dies legt ihre Bewältigungsstrategien lahm, Prüfungen des Scheiterns zu bestehen.

Aus der Schwäche kann eine Stärke erwachsen

Deshalb sollten Erwachsene den jungen Menschen durch die Unwägbarkeiten des Lebens helfen und ihr Scheitern eher begleiten statt es sofort wegzubügeln. Im Kern liegt darin auch das, was Sigmund Freud das Urvertrauen genannt hat, dass aus einer Schwäche eine Stärke erwachsen kann. Oder anders formuliert: dass das Scheitern zwar eine Türe ist, die sich schliesst – aber gleichzeitig auch ein Fenster, das sich öffnen kann. 

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