Mütter sind an allem schuld! Gedanken zur Ideologie der intensiven Mutterschaft

erschienen in Aaraguer Zeitung  / Die Nordwestschweiz, 21.05.2018

Mutterschaft wird verklärt. Tritt der Traum vom eigenen Kind ins Leben, schwelgen Frauen nicht nur im Glück, sondern auch in Zukunftsplänen. Mit oder ohne Partner können sie neuerdings frei entscheiden, ob sie lieber einen Benjamin oder eine Anna hätten und wie, wo und wann das Kind zur Welt kommen soll. Solche Wahlfreiheiten passen zwar gut zu unserer individualisierten Gesellschaft, doch sobald Frauen Mütter werden, ändert dies grundlegend. Das Kind ist nicht mehr ein Geschenk, sondern eine Verpflichtung.

Der Druck auf Mütter und die ungefragten Ratschläge

Der Druck auf Mütter ist nie grösser gewesen als heute, und das beginnt schon nach der Zeugung. Was liest man nicht alles darüber, was werdende Mütter in der Schwangerschaft falsch machen und weshalb sie dem ungeborenen Kind schaden. Und wenn das Kind geboren ist, sollen sie es mindestens ein Jahr stillen sowie Attachment Parenting (stete körperliche Nähe sowie umgehende Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse) und Co-Sleeping (Kind schläft im Elternbett) praktizieren. Selbstverständlich kann man dafür oder dagegen sein, es gibt für jede Position genug pro- und kontra-Begründungen! Doch verblüffend ist, dass Frauen all die neuen Forderungen einfach so anwenden. Offenbar gibt es für sie keinen anderen Weg als diesen propagierten, der ihnen alles abverlangt.

Bildungspolitiker, Werbemacher, Ärzte, die eigenen Eltern oder die Schwiegereltern: Alle geben den Frauen ungefragt Ratschläge und nörgeln an ihrem Erziehungsverhalten herum. Auch in Fachbeiträgen werden Mütter kaum mehr in positiven Begriffen diskutiert. Man schiebt ihnen (und nicht den Vätern!) kurzsichtig und monokausal die Schuld in die Schuhe, wenn das Kind nicht so funktioniert, wie man es gerne hätte. Eine solche Einschüchterungskultur – in den USA motherblaming genannt – setzt auch viele selbstbewusste Mütter unter Druck. So antworteten in unserer neuesten Studie zwei von drei Frauen auf die Frage, was das Härteste am Muttersein sei: Druck, Stress, Schuldgefühle.

Auch selbstbewusste Mütter plagt das schlechte Gewissen

Woher kommt es, dass Mütter so oft Beschuldigungsvorwürfen ausgesetzt werden und sich das schlechte Gewissen seinen Weg in ihre Köpfe bahnt? Teilweise wahrscheinlich von der nach wie vor prominenten Freudschen Theorie, welche Mütter für Vieles schuldig spricht: für Ängste, Schwächen, ja für die ganze Lebensbewältigung des Kindes – auch wenn es schon längst erwachsen ist.  Noch wirkmächtiger ist die Hinterlassenschaft von John Bowlby, der die Mutter als die zentrale Person für die Bindungsfähigkeit des Kindes bezeichnete. Seine Theorie hat unser Denken so grundlegend verändert, dass heute das mütterliche Bindungsverhalten als wichtigster Teil einer verantworteten Mutterschaft gilt, obwohl mehr als siebzig Prozent der Kinder auch frembetreut werden.

Es ist wenig erstaunlich, dass das schlechte Gewissen immer wieder lautstark bei den Müttern anklopft: Schon wieder im alltäglichen Erziehungschaos so lautstark mit der Tochter geschimpft, dass am Schluss beide in Tränen ausgebrochen sind – obwohl man doch geduldiger werden wollte. Ganz zu schweigen von den schlaflosen Nächten und der Angst, man sei eine schlechte Mutter, weil die Lehrerin gesagt hat, der Sohn sei etwas aggressiv.

Nicht nur Selbsttherapie, sondern eine neue Familienpolitik!

Was tun? Aus der Forschung wissen wir, dass Mütter, die immer mit schlechtem Gewissen reagieren, ihre psychische Gesundheit und ihr Selbstwertgefühl untergraben. Solche Gefühle machen überverantwortlich (aus schlechtem Gewissen lässt man den Kindern mehr durchgehen als gut wäre) und führen zur Überkompensation (man macht dem Geschenke, um es für das eigene, vermeintliche Fehlverhalten zu entschädigen). Zwar ist es positiv, dass viele Magazine den Frauen Ratschläge geben, wie sie sich weniger schuldig fühlen könnten. Sie reichen von der Entwicklung von Widerstandsfähigkeit über die Akzeptanz der Situation bis zur Relativierung des Umfeldes, das einem immer ein schlechtes Gewissen einreden will.

Doch solche Tipps setzen allein bei den Frauen und ihrer Selbsttherapie an. Was wir dringender brauchen, ist eine neue Familienpolitik, verbunden mit der Redimensionierung gesellschaftlicher Erwartungen an Mütter. Und mehr Frauen, die sich von solchen Erwartungen bewusst emanzipieren. Dies würde der weiblichen Gesundheit viel bringen.

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