Wir eilen, also sind wir. Was uns Träumerkinder lehren können

Gastkommentar in der Aargauer Zeitung /Die Nordwestschweiz, 13.06.2022, 2.


Es ist paradox: Wir leben immer länger, aber die Zeit wird immer knapper. Durchgehend erreichbar sein und von einem Termin zum anderen jagen. Der Zeit vorauseilen oder atemlos hinterher. Die Uhr, das Handy und Social Media geben den Takt des Lebens vor. Wir eilen, also sind wir. Die Zeitfalle gilt in Ratgebern als persönliches Problem. Wer ein Zeitmanagement aufbaue, kriege das Problem in den Griff – heisst es. Also genau planen, etwas schneller laufen und mehr multitasken. Effizienz ist die neue Tugend.

Das Träumerkind und die Zeitfalle

Die tägliche Hetzerei bekommen Mütter und Väter, die Beruf und Familie vereinbaren wollen oder sollen, besonders zu spüren. Viele fühlen sich als Managerinnen und Logistiker, die den Nachwuchs dauernd antreiben müssen. Und wenn sie ein Träumerkind haben, kann die Zeitfalle sogar zu eine Lebensbremse werden – aber erst, wenn es eingeschult wird.

Zunächst sind Träumerkinder oft pflegeleicht. Ihre Eltern werden benieden, wenn sich der Sprössling stundenlang mit Steinen beschäftigen oder sich im Flow befindet, wenn er fasziniert vor einer Baustelle stehen bleibt und die Welt vergisst. Kleine Träumer können sich ausgiebig mit ihrer Fantasie beschäftigen und scheinen nie Langeweile zu haben. Doch mit dem Schuleintritt ändert sich das. Streng getaktete Tage, volle Terminkalender, Hortstruktur und zeitaufwändige Hobbies stressen sie.

Am Morgen kommen sie nicht aus dem Bett. Auch das Anziehen gelingt nur langsam, dass die Eltern entnervt helfen müssen. Und es wäre auch zu spät für die Schule, wenn nicht Mama oder Papa noch schnell den Taxidienst übernehmen würden. Im Unterricht geht es weiter mit der Seelenbaumelei. Träumerkinder finden das Arbeitsblatt nicht, gucken andauernd aus dem Fenster und scheinen die vorbeifliegenden Vögel zu zählen. Für Erwachsene können die kleinen Träumer zu einer Provokation werden. Denn sie verschwenden ihre Zeit.

Tagträumerei und unsere Effizienzgesellschaft 

Fachleute sind sich einig, dass Träumerkinder Struktur und Ordnung brauchen, damit sie sich orientieren können, beispielsweise durch Punktepläne und Listen, vielleicht sogar mit einem Belohnungssystem. Solche Empfehlungen sind durchaus zu unterstützen. Doch damit ist das Kernproblem noch nicht angesprochen: dass uns die kleinen Träumer den Spiegel der Effizienzgesellschaft vorhalten. Tagträumerei ist die letzte Tätigkeit der Moderne, die sich jeglichem Effizienzdenken entzieht. Das beste Beispiel sind boomende Meditations- und Aufmerksamkeitstrainingskurse für Erwachsene, die unter Leistungsdruck stehen. In solchen Kursen wird das Gehirn entschlackt, der mentale Resetknopf gedrückt und dem Verlangen nach Ausstieg wenigstens eine Meditationssession lang nachgegeben. Träumerkinder beanspruchen genau solche Zeitinseln mit unverplanten Stunden und Freiräumen, die sie sich selbst schaffen dürfen.

Träumen kann für Kinder auch positive Auswirkungen haben – vorausgesetzt, die Dosis stimmt. Weder Verträumtheit noch Langsamkeit sind per se Störungen, und sie haben nichts mit Intelligenz zu tun. Es gibt auch keine Entwicklungspille, die das kindliche Reifungstempo im Turboverfahren vorantreibt. Ein grosser Fehler ist es, Druck auf Träumerkinder auszuüben, weil sie andere Menschen werden sollen. Wahrscheinlich werden sie dann nur noch verträumter und langsamer. Zudem schwächt sich Verträumtheit mit zunehmendem Alter ab.

Das Effizienzstreben nicht auf Kinder übertragen

Dass Erwachsene, die unter der Hochleistungsgesellschaft leiden, sich Ähnlichem hingeben wie kleine Träumer, sollte uns im Käfig unserer Effizienzkultur nachdenklich stimmen und zur Frage animieren: Wie können wir den Heranwachsenden eine Zukunft bereitstellen, die das gesellschaftliche Effizienzstreben nicht unhinterfragt auf sie überträgt? Meine Botschaft ist die: Schafft (Träumer-)Kindern Raum, gebt ihnen Zeit! Lasst sie in ihrem Tempo Lern- und Lebenserfahrungen machen! 

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