Die Lehren aus dem Lockdown

Erschienen im Blick Magazin, 10.05.2020., S. 7-8.


Im Sprint talentiert, für den Dauerlauf weniger – das ist meine Bilanz der Corona bedingten Schulschliessung. Den achtwöchigen Sprint haben Familien und Schulen viel besser gemeistert als jeder Zukunftsforscher dies prognostiziert hätte. Wäre daraus ein Dauerlauf geworden, hätte es wohl den einen oder anderen Kollaps gegeben.

Von einem Tag auf den anderen wurden Eltern auf die Kernfamilie zurückgeworfen und den Lehrkräften ihre Existenzgrundlage des menschlichen Miteinanders entzogen. Unbesehen ihrer technologischen Fähigkeiten mussten sie sich in ein mehr oder weniger intensives Digitalisierungsbad einlassen, während für Eltern und ihre Kinder das ganze Dorf wegbrach, das es für die Erziehung braucht. Fremdbetreuung zu, Grosseltern-Kita gestrichen, keine Gspänli, kein Schulweg, Fussballtraining und Ballettstunde ade. Und mit dem Homeoffice löste sich der bisher minutiös getaktete Wochenplan im Nichts auf.

Die erste Freude über die neu gewonnen Freiheiten wich bald der Erkenntnis, dass der Lockdown auch Dauerpräsenz von Eltern und Kindern auf engem Raum bedeutete und damit zum Stresstest wurde. Ungewollt mussten nun nicht nur Mütter, die schon bisher geübte Multitaskerinnen waren, sondern auch Väter ihre Begabungen in etwa zehn verschiedenen Rollen testen: Hilfs- oder Ersatzlehrer, Animator, Organisator, Seelentröster, Spielkamerad, IT-Verantwortlicher, Hausmann, Berufsmann, Lebensmittellieferant für die eigenen Eltern – und auch noch Partner.

Morgen öffnen die Schulen wieder, Zeit für eine Rückschau: Was hat der Lockdown für Familien und Schulen bewirkt, im Positiven wie im Negativen? Die Meinungen dürften geteilt sein, doch gibt es mindestens vier diskussionswürdige Erkenntnisse. Sie zeigen, dass die Krise nicht nur Probleme schafft, sondern auch den Blick auf Chancen schärft.

1. Der Digitalisierungsschub in den Schulen und seine Folgen

Unverhofft ist die Schule in die digitalisierte Bildungswelt hineinkatapultiert worden. Und dies, trotz manchen Digitalisierungsverweigerern unter den Lehrkräften, die sich gegenüber den eifrigen Digitalisierungsprofis eher schwertaten. Aber auch diese Turbos müssen einsehen, dass nicht jede neuste digitale Lösung auch schülergerecht ist.

Damit das Bildungssystem nicht wieder in die Kreidezeit zurückfällt und die Digitalisierung unter ihrem Potenzial bleibt, sollten Lehrkräfte jetzt ihre Arbeit rückblickend evaluieren: Wann habe ich digitale Formen eingesetzt, die eigentlich nicht angebracht waren? Wann habe ich auf analoge Formen gesetzt, obwohl digitale Formen geeigneter gewesen wären? Ziel wäre – so formuliert dies Stefan Wolter – zukünftig das Beste aus der digitalen und der analogen Welt zu verschmelzen.

2. Dank Corona lernten Kinder auch fürs Leben

Lehrkräfte und Eltern haben die Kinder neu kennengelernt. Manche Kinder blieben cool, erledigten die verordneten Aufgaben allein oder mit mehr oder weniger Elternunterstützung, andere waren schon in der Schule demotiviert und blieben es auch zu Hause. Dritte blühten auf, weil sie in ihrem Tempo selbstbestimmt und interessengeleitet arbeiten konnten oder entdeckten das digitale Lernen als neue Leidenschaft. Fast alle aber brauchten die tatkräftige Unterstützung des motivierten Elternhauses, das eine technisch angemessene Grundausstattung, einen hellen Arbeitsplatz und ein schnelles Internet zur Verfügung stellen sollte. Und manchmal mussten Eltern Stresscoach sein, wenn der virtuelle Leistungsdruck noch grösser wurde als im Präsenzunterricht und Aufgaben per Push-Nachricht kamen.

Doch das Wichtigste, was manche Kinder gelernt haben dürften, ist etwas fürs Leben: dass man im Lockdown als Familie eine solidarische Schicksalsgemeinschaft werden musste. Kinder erlebten erstmals, dass Mama und Papa nicht verfügbar waren, während sie im Homeoffice arbeiten mussten. Das bedeutete, mehr Selbstverantwortung zu übernehmen, mehr Mithilfe im Haushalt zu leisten, aber auch, mit Langeweile umgehen zu lernen. Bisher waren sich viele Kinder daran gewöhnt, die kleinen Könige zu sein, um die sich das Familienleben dreht. Jetzt haben sie unverhofft ein paar neue Erziehungsmuster gelernt: sich zurücknehmen und warten zu können, aber auch zu lernen, sich selbst zu beschäftigen.

3. Auch das Homeschooling führt zu Benachteiligungen

Neben der fehlenden technischen Ausstattung hat manchen Eltern entweder die Kompetenz, die Zeit oder das Interesse gefehlt, ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen. Hier ist das Homeschooling an seine Grenzen gestossen. Deshalb ist zu erwarten, dass manche Schüler mit grösseren Defiziten als vorher wieder zur Schule kommen. Diese Problematik war natürlich schon vor der Pandemie so und eigentlich nichts Neues. Doch aus vielen Studien zu langen Sommerferien ist bekannt, dass bildungsnahe Kinder häufig noch dazu lernen und nachher besser abschneiden. Bei benachteiligten Kindern ist ein starker Einbruch zu sehen. Das nennt die Forschung «Sommerschmelze»: Vieles verschwindet bei diesen Kinder von dem, was sie gelernt hatten, so dass man in der Schule wieder auf einem tiefen Niveau anfangen muss. Doch das stärkere Auseinanderdriften der Schüler ist kein Problem, das allein die Lehrkräfte lösen können. Es ist ebenso eine Aufgabe für die Bildungspolitik, mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

4. Die Schule muss ein verlässlicher Ort für alle sein können

Trotz der umfassenden Bemühungen fehlt die Schule allen, am meisten wahrscheinlich den Kindern. Beim Fernunterricht ist für sie doch einiges verloren gegangen, vor allem die physische Präsenz der Lehrkräfte und die Beziehung zu ihnen. Doch die Corona-Krise lehrt uns einiges mehr: Die Schule muss für alle Kinder – jenseits der einkalkulierten Fremdhilfe der Eltern – ein verlässlicher Ort sein können, der ihren Entwicklungsbedürfnissen entspricht und an den sie nun gerne zurückkehren. Dies gilt auch für die orientierungslosen Kinder, für die der Lockdown eine schwierige Herausforderung war. Sie sind jetzt ganz besonders auf beziehungsorientierte und unterstützende Lehrerinnen und Lehrer angewiesen. 

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