Eine Ode an die Langeweile im Lockdown

erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 11.05.2020, 4.


«Digital Detox» – die Entgiftung vom ständigen Online sein – war bis vor kurzem besonders aktuell. Entziehungskuren und Detox-Ratgeber wurden zu einer nachgefragten Strategie, die scharenweise Menschen befolgt und sich in eine selbstgewählte und zeitlich befristete Isolation begeben haben. Das Ziel war ein optimiertes Leben in Selbstbestimmung und Ruhe vor E-Mail-Flut, Whatsapp und co. Über Nacht hat die Corona-Pandemie diesen Trend ins Gegenteil verkehrt. In der vom Bundesrat verordneten Isolation geht es darum, wer am besten online erreichbar ist und Homeoffice sowie die neue Rolle als Hilfslehrer der Kinder beim Homeschooling meistert. Und fürs Gemüt stehen Streamingdienste für Serien, Video Chats und virtuelle Apéros mit Freunden zur Verfügung.

Lockdown und die Plage der Langeweile

Doch trotz dieses digitalisierten Lebens ist sie plötzlich da, die Zeit, die sich wie Kaugummi dehnt, ausgerechnet jetzt im Lockdown: die Plage der Langeweile. Niemand will sie haben, und schon Kindern graust es vor ihr – dieser frustrierend untätige Zustand, der das Wohlbefinden behindert. Also versucht man, den eintönig gewordenen digitalen Kick mit immer grösseren Dosen zu beleben. Doch sobald sich Überdruss eingeschlichen hat, schlägt die Langeweile wieder zurück. Auf allen Kanälen wird Langeweile bekämpft. Was tun, wenn man zu Hause bleiben soll, die Schulen geschlossen sind, damit einem nicht die Decke auf den Kopf fällt? Selber Brot backen! Die Wohnung ausmisten! Mit den Kindern die Lücken in Mathematik stopfen! All die Empfehlungen sind mehr oder weniger kreative Versuche, der Leere zu entgehen. Denn die Abwehr der Langeweile ist ein Grundzug des Menschen und die Wurzel vieler Probleme, das hat schon der Philosoph Blaise Pascal gesagt.

Hat eine reizlos verlaufende Lockdown-Zeit nicht auch eine gute Seite? Peter Bichsel bekannte sich im Interview zu seinem 85. Geburtstag als Liebhaber der Langeweile, weil sie nicht nur die Zeit, sondern auch das Leben langmache. Auch Friedrich Nietzsche hat einen positiven Blick auf die Langeweile geworfen und sie als unangenehme Windstille der Seele bezeichnet, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangehe. Er scheint vorausgeahnt zu haben, was die Neurowissenschaften heute entdecken: Befindet sich der Körper im Autopilot, wird das Gehirn aktiv und schafft neue Nervenverbindungen, die ihrerseits Ideen produzieren und uns Probleme lösen lässt. «Mir ist sooo langweilig!» Über diese Klage der Kinder könnten sich Eltern auch freuen, anstatt sie im Anschluss an das Homeschooling auf Rang eins der Hitparade des Grauens zu setzen. Langeweile ist eine positive Triebfeder der Entwicklung, weshalb Mütter und Väter auch im Nach-Corona-Alltag die Langeweile gelassener ertragen lernen sollten.

Die Bespassung der Kinder behindert Langeweile

Aber nicht nur das. Damit sich Kinder in Zukunft langweilen dürfen, sollte die Erziehungsstrategie angepasst werden. Möglicherweise muss der minutiös geplante Familienalltag hinterfragt werden. Kinder sind von ihm abhängig geworden, weshalb sie Langeweile reklamieren, sobald es kein Programm gibt. Doch als Schlaumeier wissen sie ganz genau, dass bei lautstarkem Klagen Mama und Papa Sofortmassnahmen zur Bespassung der Kinder auf Lager haben. Wir müssen uns deshalb nicht wundern, wenn für manche Kinder die Gleichung gilt: «Mir ist langweilig = Das Problem lösen meine Eltern.» Langeweile muss nicht des Teufels sein. Die Nach-Corona-Zeit ist deshalb eine Chance, den Begriff Frei-Zeit wörtlich zu nehmen und dem Nachwuchs bewusst Raum für Langeweile zu geben. Kinder und Erwachsene brauchen animationsfreie Phasen als positive Quelle für die eigene Entwicklung. Die grösste Herausforderung ist, dass Eltern die Langeweile zulassen und ertragen lernen. Wenn dies gelingt, machen sie ihren Kindern ein langfristiges Geschenk. Wer in der Kindheit lernt, seine Langeweile zu überwinden, nimmt diese Erfahrung mit ins Erwachsenenalter und weiss dann, was man mit sich selbst anfangen kann.

Diese Lehre will ich nicht! Aversionsfaktoren bei...
Die Lehren aus dem Lockdown
 

Kommentare

Derzeit gibt es keine Kommentare. Schreibe den ersten Kommentar!
Bereits registriert? Hier einloggen
Gäste
Sonntag, 05. Mai 2024

Sicherheitscode (Captcha)

By accepting you will be accessing a service provided by a third-party external to https://www.margritstamm.ch/