«Kinder unter zwei Jahren sollten nicht in die Kita.» Wirklich?

Eine Replik auf das Interview in der NZZ vom 4.11.2013 zu "Das Baby gehört zu seinen Eltern" mit Rainer Böhm

Für mehr als zwei Drittel der Kleinkinder in der Schweiz ist Fremdbetreuung ein Teil ihres Lebens. Als wichtige Errungenschaft ermöglicht sie Müttern und Vätern, Kindererziehung und Berufstätigkeit zu vereinbaren. Trotzdem machen sich viele Eltern Sorgen über die Auswirkungen, aber die wenigsten getrauen sich, offen darüber zu sprechen. Was bedeutet es, wenn der Zweijährige jeden Morgen weint, wenn er in die Krippe muss? Ist es schlimm, wenn das Kita-Personal immer wieder wechselt? 

Es versteht sich deshalb von selbst, dass Medienberichte hierzu ein grosses Echo auslösen und die Meinungen zu den Auswirkungen von Fremdbetreuung mehr als nur gespalten sind. Das neueste Beispiel ist in derNZZ (04.11.2013, S. 44) nachzulesen. Während der Artikel von Beat Grossrieder «Der Staat als Gouvernante» (http://www.nzz.ch/wissenschaft/bildung/der-staat--die-gouvernante-1.18178625) differenziert ist, sind gewisse Antworten des Kinder- und Jugendarztes Rainer Böhm «Ein Baby gehört zu seinen Eltern»;http://www.nzz.ch/wissenschaft/bildung/ein-baby-gehoert-zu-seinen-eltern-1.18178627) meines Erachtens (zu) einseitig. Sie machen Glauben, die Forschung unterstütze ganz klar, dass Kinder unter zwei Jahren nicht in die Kita sollten.

Leider führen solche Antworten dazu, dass die Debatte noch emotionaler und polemischer geführt wird als sie schon ist, derweil wissenschaftliche Erkenntnisse nur soweit zur Kenntnis genommen werden, wie sie in die eigene Ideologie passen. Herzstück der Auseinandersetzung sind dabei Behauptungen, wonach Krippenkinder aggressiver seien, Krippen nicht so gut sind, wie sie sein könnten und dass Kleinkinder bis zwei Jahren deshalb zu Hause betreut werden sollten.

Ist die Krippe tatsächlich schädlich? Hierzu gibt es eine grosse Anzahl an Untersuchungen, die tendenziell sowohl ein Ja als auch ein Nein zulassen. Es gibt zwei Lager in der Forschung: Während beide in Bezug auf die intellektuelle Entwicklung zum gleichen Schluss kommen – dass sich fremdbetreute Kinder mindestens ebenso gut oder besser entwickeln als ausschliesslich zu Hause betreute – unterscheiden sie sich im Hinblick auf das Sozialverhalten. 

Das eine Lager konstatiert, dass Krippenkinder in der Schule sozial kompetenter, selbstbewusster und durchsetzungsfähiger sind, sich weniger zaghaft verhalten und insgesamt kooperativer sind. Das andere Lager – und zu diesem gehört der oft zitierte Londoner Kinderpsychologe Jay Belsky – berichtet von Verhaltensschwierigkeiten und Bindungsstörungen. Demnach können Krippenkinder auch unhöflicher, ungestümer, gereizter und aggressiver werden.

Relativ eindeutig sind die Erkenntnisse im Hinblick auf die Frage des Betreuungsumfangs. Demnach profitieren Kinder am meisten vom Kita-Besuch, wenn ein zu hoher Betreuungsumfang in den ersten zwei bis drei Lebensjahren vermieden wird. Als besonders ungünstig erweisen sich dabei instabile Betreuungsmuster, d.h., wenn Erzieherinnen in Kitas häufig wechseln. Inwiefern kleine Kinder tatsächlich vom Kita-Besuch profitieren, hängt in hohem Mass von den Beziehungen ab, welche die Erzieherinnen und Erzieher zu den Kindern aufbauen, damit sie zu einer Bezugsperson für das Kind werden können. Wenn jedoch diese Beziehungsqualität nicht stimmt, dann kann eine Kita tatsächlich negative Auswirkungen haben.

Heute wissen wir zudem, dass qualitativ gute Kitas gerade für bildungsbenachteiligte Kinder und ihre Familien langfristig gesehen grosse und positive Effekte auf die kindliche Entwicklung haben können. Aber auch hier gilt selbstverständlich, dass der Betreuungsumfang moderat sein muss. Problematisch ist allerdings die Tatsache, dass solche Kinder oft gar keine Kita besuchen, weshalb sie auch nicht davon profitieren können. Deshalb können wir heute nicht davon ausgehen, dass frühe Förderung in Kitas kompensatorisch – d.h. chancenausgleichend – wirken kann.

Zusammengenommen schadet die Krippe dem Kleinkind nicht, aber sie kann ein Risiko sein – nicht mehr und nicht weniger. Kinder, die sicher an ihre Eltern gebunden sind, ein Urvertrauen entwickelt haben und sorgfältig eingewöhnt wurden, leiden kaum an einer zeitweiligen, d.h. moderaten, Abwesenheit der Eltern. Wenn die ausserhäusliche Betreuung qualitativ gut ist und nicht zu häufig wechselt, dann können Kleinkinder – auch unter Zweijährige – von ihr profitieren. Und dann fühlen sie sich mit Sicherheit in der Kita auch wohl.

 

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