Elternängste und ihre Auswirkungen

Unzweifelhaft ist Ängstlichkeit ein Teil von Elternschaft. Es gibt ein persönliches und soziales Gefühl von Verletzlichkeit, das mit der Schwangerschaft und dem Bewusstsein aufkommt, nun bald für ein vollkommen von einem selbst abhängiges Wesen verantwortlich zu sein. Dies war schon immer so.

Stete Kontrolle und Fürsorge garantiert keine erfolgreichen Kinder

Aber heute es gibt etwas Einmaliges über die Natur elterlicher Ängstlichkeit: die Überzeugung, dass etwas mit den Kindern schief geht, wenn sie nicht andauernd kontrolliert und alle schlechten Dinge oder Gefahren von ihnen ferngehalten werden. Viele Eltern planen deshalb alles bis ins letzte Detail. Sie informieren sich ständig. Über diese Therapie und jene, über glutenfreie Geburtstagskuchen und biologischen Apfelsaft. Keinen Zucker. Keine Pizzas. Sie kaufen geschlechtsneutrales Spielzeug und wachen darüber, dass die Kinder nicht TV schauen oder nur bildendes TV.

Und dabei wird ihnen vorgegaukelt, als ob alles nur eine Frage reiner Willensanstrengung und guter Planung sei. Als ob man ein positives Selbstbild, eine gute Persönlichkeitsentwicklung, Sportlichkeit, vor allem aber Schulerfolg einfach so in den Griff kriegen könnte! Man muss die Kinder nur in die richtige Kita und in die richtige Schule schicken, und wenn nötig, noch ins Lernstudio – dann ist dem Sprössling eine erfolgreiche Lebensbahn gewiss.

Auch die Medizin steht dafür bereit. Man kann schon Kindergärtlern die richtige Pille geben, damit sie weniger scheu sind oder ruhiger und angepasster werden. Genauso kann man die Kinder in den richtigen Förderkurs schicken, z.B. ins Fussball (dann wird der Sohn vielleicht teamfähiger und abgehärteter), ins Judo (dann lernt er endlich, sich selbst zu verteidigen und nicht immer so weinerlich zu sein) oder die Tochter ins Ballett (dann wird sie graziler und weiblicher).

Der enorme Gesellschaftsdruckt zwingt Eltern zur Perfektion

Nur, was tun, wenn all dies nicht funktioniert? Dann liegt der Fehler bei den Eltern. Das heisst: Sie müssen besser und perfekter werden. Dieser Gesellschaftsdruck ist einer der Hauptgründe, weshalb sie ihren Nachwuchs nonstop umsorgen und kontrollieren. Solche Anstrengungen sind somit nicht das Ergebnis ihrer Unfähigkeit, Kinder «richtig» zu erziehen. Vielmehr ist es unsere gesellschaftliche Angstkultur, die Väter und Mütter dazu zwingt, perfekt zu sein und perfekte Kinder haben zu wollen*. Darüber berichte ich in meinem Buch.

Diese Angstkultur hat enorme Auswirkungen: Eltern sorgen sich Tag und Nacht, dass aus den Kindern nicht das werden könnte, was sie sich erhoffen, dass sie nicht fähig sein könnten, das Leben zu meistern – wenn sie sich als Vater oder Mutter nicht mächtig ins Zeug legen und störende Hindernisse, Emotionen oder unliebsame Erfahrungen von ihnen fern halten.

Kinder sind noch nie so sicher aufgewachsen wie heute

Diese Panik hat ein fast paranoides Mass angenommen. Die Paradoxie dabei ist, dass gerade das, was Eltern bei ihren Kindern verhindern sollen und wollen, oft fehlt: die tatsächliche Gefahr. Noch vor zehn Jahren galt es weitgehend als unbedenklich, den Schulweg zu Fuss zu bestreiten, am Nachmittag zur Schulfreundin zu laufen oder ins Fussballtraining mit dem Fahrrad zu fahren. Heutige Eltern sind noch so aufgewachsen, empfinden es aber für den eigenen Nachwuchs als Zumutung und Gefahr. Doch die Statistik spricht eine ganz andere Sprache: Kinder konnten noch nie so sicher aufwachsen wie heute. Straftäter, die sich an den Kindern vergreifen, sind deutlich seltener geworden als in den 1980er Jahren.

Wie könnten sich Eltern der Angst-Paranoia besser widersetzen? Indem sie immer wieder prüfen, welche Grenzen zum Schutz des Kindes gesetzt und eingehalten werden müssen und welche Grenzen es durch eigene Erfahrungen eindrücklicher erfahren kann als durch elterliche Mahnungen und Verbote. Nur so können Kinder über sich selbst hinauswachsen und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickeln. Dies ist aber nur möglich, wenn Eltern – und manchmal auch Grosseltern – mehr Mut und Gelassenheit entwickeln und auch öfters den gesunden Menschenverstand walten lassen. Paradoxerweise wissen viele Eltern darum. Ich habe mit vielen Vätern und Müttern in unseren Studien gesprochen, die erkennen, dass sie ihren Kindern aus übertriebener Sorge wichtige Erfahrungen und viel Freiheit vorenthalten, von der sie selbst als Kinder noch profitiert haben.

Es braucht mehr Solidarität unter Erwachsenen

Darüber hinaus gibt es einen wichtigen Punkt, den Frank Furedi in seinem Buch Paranoid Parenting (»Elternparanoia«**) anspricht. Er erachtet den Zerfall der Erwachsenensolidarität als einen Hauptgrund für die Dominanz unserer Angst- und Sicherheitskultur. Deshalb fordert er eine grössere Solidarität unter Erwachsenen. Tatsächlich haben sich Eltern bis in die 1980er Jahre hinein darauf verlassen können, dass andere Erwachsene – Nachbarn, aber eben auch Fremde – zu Hilfe eilen, wenn Kinder in einer Notlage sind oder Hilfe brauchen. Dieses Bewusstsein müsste sich unsere Gesellschaft wieder aneignen und lernen, ein Gesamtverantwortungsgefühl zu zeigen.

Eltern sollten sich darauf verlassen können (und auch wollen!), dass andere Erwachsene in der Öffentlichkeit ein Auge auf ihre Kinder haben. Dies bedeutet jedoch, dass alle, in erster Linie auch Eltern, das innere Bild des bösen fremden Erwachsenen, der sich an den Kindern vergreift, überarbeiten.

 

Weiterführende Literatur

*Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los! Warum entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. München: Piper.

**Furedi, F. (2004). Furedi, F. Die Elternparanoia. Warum Kinder mutige Eltern brauchen. München: dtv.

Der Ruhestand ist kein Winterschlaf
Missratene Kinder. Wenn der Nachwuchs nicht den el...

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