Elternwille und Gymnasium. Weshalb Mama und Papa beim Übertritt weniger Mitspracherecht haben sollten

Wer in der Schweiz die Chance bekommt, das Gymnasium zu besuchen, stammt wahrscheinlich aus einer gut situierten Familie. Arbeiterkinder oder solche aus einfachen Migrantenfamilien haben hingegen fünfmal schlechtere Chancen – wohlverstanden bei gleichen Schulleistungen. Zu diesem Schluss kommen verschiedene Studien*. Weshalb dem so ist, erklären sie mit den primären und sekundären Herkunftseffekten: 

  • Die primären Effekte werden für das Phänomen verantwortlich gemacht, dass Arbeiterkinder im Durchschnitt schlechtere Schulnoten als besser situierte Kinder haben. Die Ursache wird dabei in der geringeren Anregung und Förderung durch das Elternhaus vermutet.
  • Die sekundären Effekte erklären die Folgen der unterschiedlichen Bildungsentscheidungen des Elternhauses. Gut situierte Eltern sind deutlich bildungsambitionierter und streben deshalb markant häufiger das Gymnasium an, einfacher gestellte Eltern lehnen es hingegen oft ab.

Gerade diese sekundären Herkunftseffekte verweisen auf die grosse Bedeutung des Elternwillens. Markus Neuenschwander** hat in seiner Studie aufgezeigt, wie sehr Elternerwartungen auch die Lehrkräfte beeinflussen. Bestimmte Eltern haben den Schlüssel offenbar in der Hand, wenn es um den Schulerfolg des Kindes geht. Und zwar so sehr, dass Lehrkräfte einem Kind aus Familien mit hohen Bildungserwartungen bei gleicher Leistung bessere Noten geben. In der Studie von Franz Baeriswyl und seinen Kollegen*** haben 5.6% der Schüler eine Übertrittsempfehlung nur deshalb erhalten, weil die Eltern intervenierten. Verstärkt werden solche Effekte dadurch, dass einfacher gestellte Eltern die schlechtere Bewertung ihres Kindes respektive die Nichtempfehlung fürs Gymnasium gar nicht als ungerecht einschätzen und sich auch nicht wehren.

Somit spielen weniger leistungsimmanente, sondern vielmehr soziale Faktoren beim Übertritt ins Gymnasium eine Rolle. Der Elternwille verstärkt die soziale Ungleichheit. Folgedessen erstaunt auch kaum, dass der Anteil an Schülerinnen und Schülern, welche die Leistungsvoraussetzungen für das Gymnasium eigentlich nicht mitbringen, es jedoch trotzdem besuchen, gestiegen ist.

Aus solchen Gründen sind die Regelungen für den Übertritt ins Gymnasium besonders bedeutsam. In der Schweiz sind sie sehr unterschiedlich. Am verbreitetsten sind drei Systeme (teilweise in Kombination): die Aufnahmeprüfung, Noten und Eignungsfeststellung sowie die Empfehlung der Primarschule. Diejenigen Kantone, welche auf einem rein leistungsbasierten Schlüssel die Zuteilung vornehmen, haben somit chancengerechtere Systeme. Das heisst aber nicht, dass die Aufnahmeprüfung das Instrument der Wahl ist. Sie erzeugt nämlich früh schon einen enormen Leistungsdruck und schafft parallele Förder- und Unterstützungssysteme (Lernstudios, Nachhilfe etc.), die sich einfache Familien wiederum nicht leisten können. Zudem berücksichtigt das Aufnahmeprüfungssystem andere Faktoren wie Motivation, Leistungsbereitschaft oder akademisches Interesse nicht.

Fazit

Die Frage, wer das Gymnasium besuchen soll und wer nicht, ist in der Bildungspolitik ein heisses Eisen. Aber bei weitem nicht nur wegen des immer wieder beklagten «Akademisierungstrends», sondern vor allem auch aufgrund der Forderung, dass die «richtigen» Schüler das Gymnasium besuchen sollten. Weil in diesem Zusammenhang offenbar der Elternwille eine zentrale Rolle spielt, gehen Kinder aus bildungsambitionierten Familien deutlich häufiger ins Gymnasium, während solche aus einfacheren Familien eine Berufslehre machen. Das ist jedoch kein zukunftsträchtiger Zustand. Eigentlich sollten Neigungen und Fähigkeiten den Ausschlag zur Bildungs- und Berufswahl geben. Wenn dem so wäre, dann wären in der Berufsbildung mehr leistungsstarke Jugendliche aus gut situierten Familien vertreten, in den Gymnasien jedoch mehr intellektuell begabte Kinder aus Arbeiter- und benachteiligten Migrantenfamilien.

Ein wichtiges bildungspolitisches Ziel sollte sein, den Elternwillen zurückzubinden, die unabhängigen Interessen des Kindes jedoch mehr zu gewichten – und dabei ebenso die Kinder aus Arbeiterfamilien zu ermuntern und zu befähigen, den gymnasialen Weg gehen zu wollen. Notwendig wären deshalb Potenzialanalysen für alle Kinder, jenseits von Leistungstests.

 

*Helbig, M. & Gresch, C. (2013). Soziale Spaltung am Ende der Grundschule. WZ Brief 26.12., Berlin: Wissenschaftszentrum.

***Maaz, K., Trautwein, U. & Baeriswyl, F. (2011). Herkunft zensiert. Herkunft zensiert – Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheiten in der Schule. Vodafone Stiftung Deutschland.

*Möller, C. (2015). Herkunft zählt (fast) immer. Soziale Ungleichheiten unter Universitätsprofessorinnen und -professoren. Bildungssoziologische Reihe. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

**Neuenschwander, M. (2013). Selektion beim Übergang in die Sekundarstufe I und in den Arbeitsmarkt im Vergleich. In M. P. Neuenschwander (Hrsg.), Selektion in Schule und Arbeitsmarkt (S. 63-97). Zürich/Chur: Rüegger.

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