Kinderarbeit – made in Switzerland

Im Sommer haben wir auf einer Bergtour im Wallis in einer SAC-Hütte übernachtet. Wie üblich musste man sich auch dort die Getränke selbst am Buffet holen. Held des Tages war dabei der vielleicht zwölfjährige Knabe, dessen Sommerjob es war, am Abend vor und nach dem Nachtessen alle Bestellungen der Gäste entgegenzunehmen und die Kosten abzurechnen.

Es war vor allem deshalb eine Meisterleistung, weil er nicht nur die Bestellungen der Gäste aus Frankreich, England, Deutschland und den Niederlanden aufnahm, sondern jeweils auch alle Beträge feinsäuberlich schriftlich addierte und sich dabei nicht aus der Ruhe bringen liess. Wahrscheinlich habe nicht nur ich mich dabei gefragt, ob er wohl in der Schule ein guter Schüler ist, wenn er doch in der Praxis so viel üben kann.

Aber darum geht es mir heute gar nicht, sondern vielmehr um das, was dieser Zwölfjährige eigentlich macht: «Kinderarbeit». Dieser Begriff riecht zwar stark nach Entwicklungsländern, ist in dieser Konnotation aber natürlich falsch. Und doch lohnt es sich, einmal einen Blick auf dieses Phänomen zu werfen. In der Schweiz gibt es zwar kein absolutes Verbot von Kinderarbeit und für Kinder unter 15 Jahren sind viele Ausnahmen möglich. Diese Regelungen sind aber komplex und weitgehend unbekannt.

Unter 13jährige dürften beispielsweise maximal neun Stunden pro Woche arbeiten, Ältere etwas länger – wenn Ferien sind. Dass sich viele Kinder in einer Grauzone bewegen, zeigt sich, wenn man die vielen Untersuchungen zum Freizeitverhalten Jugendlicher studiert: Ein Grossteil würde wahrscheinlich solche Normen deutlich überschreiten.

Kinderarbeit ist in der Schweiz weit verbreitet. In einer unserer Studien haben im Jahr 2009 80% der befragten 13jährigen angegeben, gelegentlich oder regelmässig zu jobben, und dies mit Einwilligung und Unterstützung der Eltern. Dieses Phänomen ist zwar alt. Die meisten von uns haben sicher mehrheitlich warme Erinnerungen an das erste verdiente Geld. Neu daran ist jedoch, dass fast alle Kinder heute jobben, um sich materielle Dinge zu leisten, die ihnen die Eltern nicht bieten können. Viele brauchen auch das Geld ausschliesslich für die Parties am Wochenende.

Sind die heutigen Kids somit zu materialistisch und gar zu geschäftstüchtig, weil sie in der Art und Weise, wie man Kohle scheffeln kann, immer raffinierter werden? Oder hat ein solches Jobben auch einen pädagogischen Wert, weil sich Kinder Ziele setzen, die Zeit einteilen und sich für etwas Bestimmtes längere Zeit anstrengen müssen? Die Meinungen hierzu sind sehr gespalten.

So fragen sich die einen, ob Kinderarbeit nicht immer mehr zu einem Vollzugsdefizit des Kinder- und Jugendarbeitsschutzes würde, wie dies beispielsweise in der FAZ im letzten Sommer moniert wurde. Auch die Interpellation in der Berner Kantonsregierung verweist in eine ähnliche Richtung. Als nach dem letzten Gurnigelrennen Schüler zum Putzen der Rennstrecke eingesetzt worden waren, hatte sich eine Votantin gefragt, ob es sich dabei nicht um Kinderarbeit handle.

Andere wiederum relativieren und unterstreichen, dass Kinderarbeit eine legitime Aktivität sei, die erst noch erlaube, ausserschulische Kompetenzen und damit praktische Intelligenz zu erwerben. Die Dritten – häufig Lehrkräfte – finden oft, dass beides zusammen – Jobben und Lernen – nicht gehe und der Schule schade. Empirisch hat sich dies in unserer Studie nicht bestätigt. Es waren eher die Besten, welche auch am häufigsten arbeiteten.

Wie viele Millionen jährlich in der Schweiz in Kinderarbeit fliessen, wissen wir nicht, es dürften jedoch mit Sicherheit einige sein. Angesichts der aktuellen Diskussion um die Kinderrechte in der Schweiz und die geplante Inkraftsetzung des neuen Kinder- und Jugendförderungsgesetz KJFG auf den 1. Januar 2013 wäre eine Diskussion dessen, was Kinderarbeit ist und welchen Zielen und Zwecken sie (nicht) dienen soll, zumindest von Interesse:

Ist Kinderarbeit ein soziales Recht oder eher eine Ausbeutung unseres Nachwuchses? Sollten Rechte an die Stelle von Verboten treten oder umgekehrt? 

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