Lebenskompetenz schlägt Intelligenz

Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 23.10.2019, 4.


Kennen Sie Ihren Intelligenzquotienten? Oder den Ihrer Kinder? Wenn nicht, sollten Sie dies vielleicht nachholen. Denn nur so können Sie abschätzen, ob Sie oder Ihr Nachwuchs zu den 70 Prozent der Bevölkerung gehören, die in der Nähe des Mittelwertes liegen (100 Punkte), zu den 15 Prozent der überdurchschnittlich Begabten oder sogar zu den zwei Prozent Hochbegabten mit einem IQ von 130 und mehr. Wenn dies zutrifft, sind Sie vielleicht ein bisschen stolz. Manche Eltern tun deshalb einiges für ein hochbegabtes Kind und rennen von einer Abklärung zu nächsten, bis die Diagnose endlich vorliegt. Man sollte ihnen dafür keine Vorwürfe machen, weil sie nach dem Besten für ihr Kind suchen. Doch blenden sie dabei oft andere wichtige Fähigkeiten aus.

Intelligenz wird überschätzt – das ist die These der Expertiseforschung. Man kann auch ohne hohe Intelligenz beruflich bis zur Spitze vordringen. Beispiele dafür sind die Physiker William Shockeley und Louis Alvarez, die für ihre Untersuchungen den Nobelpreis bekamen, als Kinder jedoch aufgrund ungenügender Intelligenz nicht in eine amerikanische Hochbegabtenstudie aufgenommen worden waren. Auch ETH-Kollegin Elsbeth Stern argumentiert, dass zu viele Jugendliche mit unterdurchschnittlicher Intelligenz ins Gymnasium gehen würden. Sie seien deshalb fehl am Platz.


Nur: Warum schaffen es viele dieser weniger Intelligenten trotzdem?

Weil ihre Eltern sie ins und durchs Gymnasium pushen, im Lernstudio zusätzliche Förderunterstützung einkaufen und Rekurse schreiben, sobald Leistungsprobleme auftauchen. Solche Erklärungsmuster sind in aller Leute Munde, aber nur die eine Seite der Medaille. Es gibt auch Jugendliche, die gerade wegen dem fehlenden Push-Elternhaus nur durchschnittliche, manchmal sogar schlechte Noten haben, später aber trotzdem Karriere machen. Ein Beispiel sind die Besten der Schweizer Berufsmeisterschaften – von denen zwar ein gutes Drittel in der Schule schlechte Schüler waren – die sich aber in unserer SwissSkills-Studie durch Selbstdisziplin, Stressresistenz, Hartnäckigkeit und Neugier am Lernen auszeichneten. Das sind Fähigkeiten, welche die WHO als Lebenskompetenzen bezeichnet. Lebenskompetenzen schlagen Schulintelligenz.

Zwar gibt es einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Noten, weshalb es auch bei durchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten genug Leistungsspielraum nach oben gibt. Doch ab einer gewissen IQ-Schwelle werden die Lebenskompetenzen wichtiger. Unbesehen davon setzt man gute Schulnoten immer noch mit hoher Intelligenz gleich, währendem Lebenskompetenzen zweite Garnitur geblieben sind. Dies wird in manchen Aufnahmeverfahren ans Gymnasium oder in Rekrutierungs- und Selektionsmassnahmen für die Berufslehre deutlich. Angesichts unserer akademisierungsorientierten Leistungskultur ist das kaum überraschend.

Solche Einseitigkeiten hat die Schule erkannt und im Lehrplan 21 das mit den Lebenskompetenzen vergleichbare Konzept der überfachlichen Kompetenzen eingeführt. Obwohl es auf den schulischen Kontext und weniger auf eine erfolgreiche Lebensbewältigung ausgerichtet ist, beinhaltet es die wichtigste Frage überhaupt:


Wie fördert man solche Kompetenzen in Elternhaus und Schule?

Sicher nicht, indem man den Eltern eintrichtert, sich einfach weniger auf die Noten des Nachwuchses zu konzentrieren und ihn etwas entspannter zu erziehen. Aber auch nicht dadurch, dass die Schule nun die Kinder mit Selbstbeurteilungsbögen bombardiert und daraus den Schluss ableitet, die Schüler würden sich so Lebenskompetenzen aneignen. Lebenskompetenzen werden in einer Schule gefördert, die Beziehungen hoch gewichtet; die herausfordernde Situationen schafft, um Durchsetzungsfähigkeit zu erproben; die ermöglicht, Frustrationstoleranz durch die Überwindung von Hindernissen einzuüben und Hartnäckigkeit zu entwickeln; und die von Schülerinnen und Schülern verlangt, an einer Sache dranzubleiben.

Doch allein kann es die Schule nicht richten. Deshalb gelten die gleichen Förderprinzipien für das Elternhaus. Mütter und Väter, welche auch auf solche Kompetenzen setzen, erleichtern nicht nur die Arbeit der Lehrkräfte, sondern stärken auch die Leistungsfähigkeit und Lebenstüchtigkeit ihrer Kinder.

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