Keine Zeit - Ich bin am Handy! Die abwesende Anwesenheit von Müttern und Vätern

Menschen mit Handys gehören zum gewohnten Strassenbild. Schlafwandlerisch schiebt ein Papa den Kinderwagen und starrt dabei konzentriert aufs Display seines Smartphones. Die Haltung der Mama auf dem Spielplatz erinnert mit ihrem geneigten Kopf und den abgewinkelten Armen an eine ins Gebet vertiefte Nonne. Die abwesende Anwesenheit solcher Mütter und Väter hat aber nichts mit kontemplativer Versenkung zu tun, sondern mit angestrengter digitaler Kommunikation mit anderen. Doch was macht eigentlich das Kind in dieser Zeit oder: Was macht das Handy mit ihm? Und mit den Eltern?

Wenig Forschung, aber Hinweise zur verbesserten Nutzung

Erstaunlicherweise gibt es zu solchen Fragen von wenigen Ausnahmen abgesehen fast nur anglo-amerikanische Querschnittstudien, die zwar Erhellendes liefern, nicht aber seriöse Antworten auf die Frage nach Ursache-Wirkungsbeziehungen liefern können. Zudem basieren sie meist auf Selbstauskünften. Allerdings ist eine vielversprechende Studie der ZHAW bis Ende 2020 in Arbeit, welche der Frage nachgeht, wie werdende Eltern das Smartphone verwenden.

Deshalb ist die Zusammenstellung des aktuellen Forschungsstandes in diesem Blog mit Vorsicht zu geniessen und nicht zu überinterpretieren. Immerhin ermöglicht die Analyse zumindest, Gründe und Auswirkungen der elterlichen Ablenkung durch das Smartphone etwas besser zu verstehen und Hinweise zu bekommen, wie negative Effekte vermieden und die Nutzung verbessert werden können.

Im Rahmen der Recherche von fünfzehn Studien hat sich gezeigt, dass Antworten zu folgenden drei Fragen am besten beantwortet werden können (McDaniel, 2019):

Warum nutzen Eltern das Handy?

Wie beeinflusst die Handy-Nutzung ihre Erziehungsqualität?

Wie beeinflusst die Handy-Nutzung die Kinder?

 

Warum nutzen Eltern das Handy, wenn sie mit dem Kind zusammen sind?

Alle Menschen, auch die Eltern, nutzen das Handy in erster Linie wegen vier attraktiven Merkmalen: Man kann sich mit anderen Menschen via Anruf, Textnachricht oder Social Media verbinden; E-Mails lassen sich schnell bearbeiten, und man kann Musik hören, TV-Shows sehen, lesen und sich informieren. Das Handy ist ein derart integraler Teil geworden, dass die so genannte Nomophobia (No-Mobile-Phone-Phobia), d.h die Angst, ohne Mobiltelefon unerreichbar für soziale und geschäftliche Kontakte zu sein, weit verbreitet ist (King et al., 2013). Wer kennt nicht den raschen Griff in die Tasche, um sich zu versichern, dass das Seelenstück da ist? Wer durchschnittlich pro Tag 80 mal das Handy checkt – der zeigt gemäss der Studie von King et al. (2013) Symptome von Suchtverhalten.

Digitale Medien haben aber auch andere Vorteile, beispielsweise die Möglichkeit, negative Erfahrungen wie Einsamkeit lindern zu können. In der Untersuchung von Radesky et al. (2016, p. 697) berichten Mütter, die nicht oder nur in einem kleinen Ausmass berufstätig sind, dass das Handy für sie wie eine Insel, eine Belohnung für das fehlende Gesellschaftsleben sei.

Wie beeinflusst die Handy-Nutzung die Erziehungsqualität der Eltern?

Der quasi non-stop-Gebrauch des Handys beeinflusst die Erziehungsqualität von Müttern und Vätern. Die einfachste Erklärung dafür ist die, dass die am Handy verbrachte Zeit der Beschäftigung mit dem Kind abgeht. Das ist vielen Eltern bewusst, und sie haben deswegen auch oft ein schlechtes Gewissen, weil die Zeit für die meisten im Berufs- und Familienalltag sowieso eine Mangelware ist (Radesky et al., 2016). Der zweite Punkt ist die Schwierigkeit zu multitasken, also aufmerksam das Handy zu bedienen und dabei andere Aufgaben zu erledigen, doch dem Kind gegenüber gleichzeitig responsiv zu sein. Fast zwei Drittel der Mütter berichten, dass sie die emotionale Energie besonders belastend empfinden, welche das Handy absorbiert und zu Stress, Überbelastung und negativen Gefühlen führen kann. 55% der Mütter und 45% der Väter sagen auch, sie würden harscher reagieren, wenn die Kinder versuchen, sie vom Handy wegzulocken (McDaniel et al., 2018).

Wie beeinflusst die Handy-Nutzung die Kinder?

Das ist die wichtigste Frage. Die grundlegendste Bindung und Beziehung, die ein Kind haben kann, ist die zu seiner Mutter und seinem Vater – und zu wenigen sekundären Betreuungspersonen. Die Bindungsqualität der Väter und Mütter machen vier Komponenten aus: (1) eine angemessene Interpretation der kindlichen Signale; (2) ein kontingentes Ansprechverhalten; (3) eine angemessene Reaktion; (4) eine grundsätzliche Sensibiliät respektive Feinfühligkeit dem Kind gegenüber.

Wer dauernd online ist, nimmt die Signale des Kindes weniger wahr, ist nicht ansprechbar und kann deshalb auch weniger angemessen das kindliche Verhalten interpretieren, ein zeitnahes Ansprechverhalten zeigen sowie angemessen reagieren. Abgelenkte Eltern, so McDaniel (2019), zeigen weniger Sensibilität und Feinfühligkeit dem Kind gegenüber und schaffen ihm damit ungewollt ein Fundament für eine unsichere Bindungsbeziehung. Unsicher gebundene Kinder sind eher frustriert, hyperaktiv, schmollend oder reagieren mit Wutanfällen, worauf viele Eltern mit noch mehr Medienkonsum reagieren (Radesky, 2016; Davidovitch et al., 2018). McDaniel (2019) berichtet zudem von einer Zunahme kindlicher Verletzungen aufgrund elterlicher Ablenkung. Bestätigt wird dies durch zahlreiche Schweizer Medienberichte aus dem letzten Sommer, wonach Eltern im Schwimmbad zu sehr von ihren Handys abgelenkt seien und ihre Aufsichtspflicht nicht erfüllen würden.

Zusammenfassung: Das Problem der Technoreference

Ein Grossteil der empirischen Studien gehen davon aus, dass Eltern, die viel Zeit mit digitalen Medien verbringen, anstatt sich mit dem Nachwuchs zu beschäftigen, bei ihm Verhaltensauffälligkeiten geradezu fördern. McDaniel (2019) hat für diese Ablenkung und ihre Folgen den Begriff «Technoreference» eingeführt. Er meint damit den Umstand, dass der Dauerblick auf Smartphone und co. den persönlichen Kontakt von Auge zu Auge störet und zu familiären Konflikten und Störungen in der Eltern-Kind-Interaktion führt. Welche Bedeutung Technoference im Säuglingsalter hat, ist jedoch noch weitestgehend unerforscht. Erste Hinweise liefert die BLIKK-Medienstudie (2017). Sie weist signifikante Zusammenhänge zwischen der mütterlichen digitalen Mediennutzung im Beisein des Säuglingss und Fütterungsverhaltens sowie Einschlafstörungen des Kindes nach.

Auf solche beindruckenden Ergebnisse sollten Angebote der Mütter- und Väterberatung, der Eltern- und Familienarbeit reagieren und gezielte erziehungspraktische Vorschläge entwickeln. Es geht nicht darum, die Nutzung digitaler Medien gänzlich zu vermeiden, sondern junge Eltern in der Reflexion ihres Nutzungsverhalten zu unterstützen. Vielleicht gelingt es ihnen dann, sich wieder etwas Freiheit zurückzuerobern und ab und zu auch wirklich präsent zu sein.

 

Weiterführende Literatur

Institut für Medizinökonomie & Medizinische Versorgungsforschung der Rheinischen Fachhochschule Köln und Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (2017). BLIKK-Medienstudie. www.drogenbeauftragte.de

Davidovitch, M.Shrem, M.Golovaty, N.Assaf, N.Koren, G. ( 2018). The role of cellular phone usage by parents in the increase in ASD occurrence: A hypothetical framework. Medical Hypotheses, 1173336.

King, A. L. S.Valença, A. M.Silva, A. C. O.Baczynski, T.Carvalho, M. R.Nardi, A. E. ( 2013). Nomophobia: Dependency on virtual environments or social phobia? Computers in Human Behavior, 291), 140144.

McDaniel, B. T. (2019). Parent distraction with phones, reasons for use, and impacts on parenting and child outcomes: A review of the emerging research. Human Behavior and Emerging Technologies. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/hbe2.139

McDaniel, B. T.Everest, J.White, C. ( 2018). Parent distraction with technology and its impact on parenting quality. Poster presentation at Illinois Council on Family Relations. Normal, IL.

Radesky, J. S.Christakis, D. A. ( 2016). Increased screen time: Implications for early childhood development and behaviorPediatric Clinics, 635), 827839.

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Kommentare 1

Gäste - Eva (website) am Donnerstag, 31. Oktober 2019 16:05

Liebe Margrit,

vielen Dank für den aufschlussreichen und sehr gut recherchierten Artikel!
Von dem Begriff «Technoreference» habe ich vorher noch nie gehört. Es gibt sogar noch weitere, belegte Folgen zwischen Smartphone und menschlichen Beziehungen. Hier ist eine Übersicht zum Weiterlesen (mit Quellenangaben): https://www.phocus.app/2019/10/31/gefahren-der-smartphone-nutzung/

Liebe Margrit, vielen Dank für den aufschlussreichen und sehr gut recherchierten Artikel! Von dem Begriff «Technoreference» habe ich vorher noch nie gehört. Es gibt sogar noch weitere, belegte Folgen zwischen Smartphone und menschlichen Beziehungen. Hier ist eine Übersicht zum Weiterlesen (mit Quellenangaben): https://www.phocus.app/2019/10/31/gefahren-der-smartphone-nutzung/
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