Unbeaufsichtigte Kinder als moralische Empörung

erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 2018, 03.12., 16.

 

Unsere Gesellschaft hat eine bemerkenswerte Angstkultur entwickelt. Das Beispiel: Eine Mutter liess ihr vierjähriges Kind fünf Minuten im Auto mit dem IPod warten, währendem sie im Geschäft nebenan ein Kopfhörer-Set kaufte. Ein Passant sah das mit dem Gerät spielende Kind, machte ein Foto vom Nummernschild des Autos und meldete das Ereignis der Polizei. Sie verpasste der Mutter eine Ermahnung.

Eltern im Katastrophenmodus

Dass dieses Beispiel aus Deutschland stammt, tut nichts zur Sache. Es macht betroffen, weil sowohl der Passant als auch die Polizei offenbar die gleiche Annahme teilten: dass ein Kind allein im Auto in höchster Gefahr ist und dieser Zustand als unhaltbar gilt. Doch objektiv stimmt das in diesem Beispiel überhaupt nicht. Es ist vielmehr Ausdruck einer gesellschaftlichen Phobie, die in der Angst gründet, einem Kind könnte jede Sekunde etwas passieren, wenn Mutter oder Vater nicht dabei sind.

Weshalb sind kurzzeitig unbeaufsichtigte Kinder ein Grund zu derartiger Empörung geworden? Natürlich wegen den Gefahren! Was in der Vergangenheit als sicher galt, wird heute als unsicher bezeichnet. Doch Statistiken belegen beispielsweise, dass Gewaltverbrechen seit den 1980er Jahren abgenommen haben und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind von einem Fremden entführt oder missbraucht wird, minimal ist. Obwohl man dies intellektuell weiss, beängstigt die kleine Wahrscheinlichkeit enorm. Aufgrund der Medienpräsenz der Thematik genügt oft schon ein Fall, um eine Welle öffentlicher Ängste auszulösen. Die moralische Panik hat ein fast paranoides Mass angenommen, so dass viele Eltern in einem permanenten Katastrophenmodus leben.

Zwischen Gefahren und Risiken unterscheiden

Es wäre aber zu einfach, Eltern als überängstlich zu bezeichnen. Tatsache ist eher, dass sie in dieser Richtung sozialisiert werden. Unsere gesellschaftliche Angstkultur ist zu einer unhinterfragten Norm geworden, die den gesunden Menschenverstand in die Ecke gedrängt hat. Heute gelten Kinder nicht mehr als widerstandsfähig, sondern als verletzlich. Dieser Verwundbarkeitsgedanke wird unablässig angeheizt und führt soweit, dass Eltern denken, sie würden das Kind vernachlässigen, wenn sie es einmal kurz allein lassen. Viele von ihnen empfinden sich deshalb als 24-Stunden-Sklaven.

Obwohl manche Mütter und Väter spüren, dass sie ihrem Kind mehr zutrauen sollten, verhindern solche Erfahrungen in und mit der Öffentlichkeit, dass sie dies auch tatsächlich tun. Zwar darf man die Sicherheitsmaximierung unserer Gesellschaft nicht generell kritisieren, sondern nur spezifisch im Hinblick auf die unzureichende Differenzierung zwischen echter Gefahr und Risiken. Vor Gefahren müssen wir Kinder schützen und aktive Präventionsarbeit leisten, weil sie diese möglicherweise noch gar nicht sehen oder einschätzen können. Dazu gehören Steckdosen oder giftige Beeren für Babys oder dicht befahrene Strassen für Kleinkinder. Bei Risiken handelt es sich um Herausforderungen, die Kinder bewältigen können: der Knabe, der auf einem Mäuerchen balanciert oder das Mädchen, das auf einen Baum klettert – auch wenn daraus möglicherweise ein aufgeschürftes Knie oder ein paar blaue Flecken resultieren. Doch Eltern, welche solche Aktionen dulden oder gar unterstützen, gelten schnell als unverantwortlich.

Die Auswirkungen der Angstkultur sind negativ

Anstatt nur die kindliche Sicherheit zu diskutieren sollten wir eher die Auswirkungen unserer Angstkultur bedenken. Und zwar auch dann, wenn Sicherheitsindustrie und Ratgeber sagen, es sei nie schade, das Kind genau im Blick zu haben. Doch, es kann ein nachhaltiger Schaden entstehen, wenn der Nachwuchs jede Minute kontrolliert wird. Eine dauerüberwachende Erziehung nimmt den Kindern die Möglichkeit zu lernen, wie man eine Situation einschätzen und sich entsprechend verhalten muss. Eltern, die ständig in vermeintlich gefährliche Situationen eingreifen, vermitteln ihnen die Botschaft, dass Aufwachsen generell bedrohlich sei. Deshalb übernehmen Kinder alles, was Mama und Papa Angst einflösst – unbesehen davon, ob es sich um eine existente Gefahr oder ein bewältigbares Risiko handelt oder nicht.

Eigentlich sind solche Einsichten überfällig. Wann Eltern fahrlässig handeln und wann entwicklungsförderlich, gehört deshalb in jede Diskussion zu «verantworteter Elternschaft».

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