Weshalb meiden Betriebe Realschüler?

Ist es nicht sonderbar? Zur Zeit verzeichnet die Schweiz einen markanten Lehrlingsmangel. Trotzdem sind laut dem Bundesamt für Statistik 10.6% der jungen Menschen ohne Arbeit resp. ohne Ausbildungsplatz. Daraus lässt sich der Schluss ziehen: Unser System produziert einerseits zu wenig potenzielle Auszubildende, andererseits immer noch zu viele Bildungsverlierer. Und zu ihnen gehören vor allem Realschüler. Warum ist das so?

Schon lange wissen wir: Realschüler haben einen eher eingeschränkten Zugang zum Ausbildungsmarkt. Sie sind diejenigen, die am häufigsten im Übergangssystem vertreten sind: Überdurchschnittlich oft absolvieren sie ein zehntes Schuljahr, ein Motivationssemester oder ein anderes Brückenangebot. Dazu kommt, dass ihre Aussichten auf einen beruflichen Ausbildungsplatz auf ein begrenztes und häufig als wenig attraktiv erachtetes Berufsspektrum bezogen sind. Es sind also keineswegs nur die jungen Frauen – wie dies bisher immer betont worden ist – welche gegenüber den jungen Männern benachteiligende Bedingungen beim Berufseinstieg vorfinden, sondern ebenso sehr die Gruppe der Realschüler, welche am unteren Ende der Skala platziert ist. Wilfried Schneider hat sie einmal die «Kellerkinder» unserer Gesellschaft genannt.

Sind Realschüler tatsächlich dümmer als Sekundarschüler oder als solche, welche ins Gymnasium wechseln wollen? Oder liegt es vielleicht daran – wie man dies in letzter Zeit sehr oft hört und liest – dass die Anforderungen in der beruflichen Grundbildung eben gestiegen und Realschüler darüber hinaus oft nicht ‚ausbildungsreif‘ seien?

Hierzu liegen nur sehr wenige, aber interessante Forschungsergebnisse vor. So zeigt beispielsweise Paula Protz in ihrer Dissertation auf, dass weder die erhöhten Anforderungen ursächlich dafür verantwortlich sind, wenn Realschüler keine Lehrstelle finden noch die angehobenen schulischen Voraussetzungen. Von einem generellen Trend komplexer und anspruchsvoller werdender Lernanforderungen könne kaum die Rede sein.

Für die schlechteren Chancen der Realschüler sind vielmehr andere Mechanismen mitverantwortlich. Zum ersten ist es die Tatsache, dass ihr Anteil seit den 1960er Jahren um fast 30% gesunken ist, d.h. von ehemals 40% auf heute 10% bis 20%. Deshalb stehen seit vielen Jahren höher qualifizierte Schulabgänger in weit umfassenderem Ausmass zur Verfügung. Demzufolge können Betriebe vermehrt Jugendliche mit einem Abschluss auf einem anforderungshöheren Schulniveau wählen.

Zum zweiten dürfte die so genannte «Diskreditierungsthese» eine Rolle spielen. Dieser Begriff stammt von Heike Solga. Gemäss dieser These werden Realschüler gerade wegen des Trends zu höheren Schulabschlüssen immer mehr als minderwertige soziale Gruppe wahrgenommen. Dies zeigt sich im weit verbreiteten Vorurteil, dass ihre Voraussetzungen nicht ausreichen würden, um erfolgreich eine Berufslehre zu absolvieren und dann einen guten Abschluss zu erzielen. Diese These hat sich in unseren Untersuchungen bestätigt. Viele Betriebe nehmen Realschüler nicht nur als «normabweichende Minderheit» wahr, sondern diskreditieren sie auch, weil sie ihnen gar keine Chance geben, sich im Bewerbungsprozess um eine Lehrstelle überhaupt zu präsentieren. Und dies unabhängig davon, ob sie die beruflichen Anforderungen für eine Lehre im entsprechenden Segment erfüllen würden oder nicht.

Solche Vorurteile und die stete Kritik an der fehlenden Ausbildungsreife der Jugendlichen haben in den heutigen Zeiten des Lehrlingsmangels bei einer gleichzeitig grossen Anzahl unbeschäftigter Jugendlicher selbstmörderische Tendenzen für die Berufsbildung. Der Lehrlingsmangel ist durch die Akademisierung einerseits (immer mehr wollen ans Gymnasium) und die Demografie (die sinkenden Geburtenzahlen) entstanden und es ist in nächster Zeit kaum eine Trendwende in Sicht. Deshalb wird sich das duale System verändern und sich den Realschülern verstärkt öffnen müssen – einer Klientel, die es bisher eher gemieden hat.

Hierzu braucht es einen Perspektivenwechsel. Unsere Untersuchungen zeigen, dass Realschüler oft über viel Potenzial verfügen und dies zeigen könnten – wenn sie überhaupt Zugang zum Auswahlprozess erhalten. Um das Potenzial zu entdecken, sollten Betriebe Schulniveau, Schulnoten und Klassenwiederholungen weniger stark gewichten als dies bis anhin der Fall war. Erfolg versprechender sind Rekrutierungsverfahren, die sich stärker auf Motivationsfaktoren sowie Persönlichkeitsmerkmale konzentrieren: auf ein gutes Selbstvertrauen, auf das Interesse am Betrieb, auf die Bereitschaft, dazuzulernen und auf eine ausgeprägte Frustrationstoleranz.

Die Berufslehre kann für viele Realschüler zur zweiten Chance werden! Wie anders lässt sich erklären, dass in unserer Studie «Migranten mit Potenzial» überdurchschnittlich oft Realschüler die beste Lehrabschlussprüfung machten, obwohl sie schlechte Schüler gewesen waren und häufig eine oder mehrere Klassen hatten wiederholen müssen?

 

Literatur

Protsch, P. (2012). Segmentierte Ausbildungsmärkte. Berufliche Chance von Hauptschülerinnen und Hauptschülern im Wandel. Dissertation. Freie Universität Berlin.

Solga, H. (2005). Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Opladen: Leske + Budrich.

Stamm, M. (2013). Lehrlingsmangel. Strategien für die Rekrutierung des Nachwuchses.  http://www.margritstamm.ch/component/docman/cat_view/4-dossiers.html?Itemid=

Lehrlingsmangel: Ist die Berufsbildung in einer Kr...
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Kommentare 1

Gäste - Anton Keller am Samstag, 06. Februar 2016 06:53

Die Konkurrenz durch die 500 Mio EU-Bürger führt dazu, dass ein Betrieb lieber fertig Ausgebildete aufnimmt als Lehrlinge, welche durch Arbeitshaltung und Motivation nur Probleme verursachen.

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