Zwischen Lehrlingsmangel und Übergangssystem: Wir brauchen ein Talentmanagement

Unglaublich, aber wahr: In der beruflichen Grundbildung dominierte vor ein paar Jahren die Jugendarbeitslosigkeit und die mit ihr verbundenen fehlenden Zukunftsperspektiven unserer Jugendlichen. Heute hat sich die Situation diametral verändert. Der Mangel an Ausbildungsplätzen ist einem Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern gewichen: Aus dem Lehrstellenmangel ist ein Lehrlingsmangel geworden (Stamm, 2013). In diesem Zusammenhang wurde bisher wenig diskutiert, dass dadurch auch die betriebliche Nachwuchssicherung und das unternehmerische Wachstum gefährdet sind. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels dürfte sich diese Situation weiter verschärfen.

Unbesetzte respektive schwierig zu besetzende Ausbildungsplätze stellen sowohl für die Betriebe als auch die Nachwuchssicherung eine ernst zu nehmende Problematik dar. Dabei ist die aktuelle Situation eine sehr spezielle: Neben dem sich immer deutlicher abzeichnenden Fachkräftemangel machen der Berufsbildung vor allem die demographischen Veränderungen zu schaffen. Stimmen die Daten des Bundesamtes für Statistik, dann wird die Anzahl Jugendlicher in diesem Altersspektrum bis zum Jahr 2020 drastisch sinken. Dazu kommt die Tatsache, dass die gymnasiale Ausbildung attraktiver denn je ist, obwohl längst nicht alle, welche eine Aufnahmeprüfung absolvieren, später auch erfolgreich sind. Anzunehmen ist jedoch, dass das Interesse an der akademischen Ausbildung ungebrochen sein und die Berufsbildung lediglich zweite Wahl bleiben wird (Strahm, 2014). Deshalb ist auch davon auszugehen, dass die absoluten Zahlen des leistungsstarken Auszubildenden, welche in die Berufsbildung eintreten, weiter sinken werden.

Aktuell wird enorm viel unternommen, um diese Problematik zu beheben. So will das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) mit der von Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt initiierten Kampagne «Berufsbildungplus.ch» oder dem neuen Programm «Match-Prof.» vermehrt Talente suchen und  gezielter fördern. Als weitere bildungspolitische Massnahmen vorgesehen sind die Motivierung junger Frauen für technische Berufe oder die gezielte Nutzung des Potenzials junger Migrantinnen und Migranten. Überdies ist laut Bundesrat Schneider-Ammann 2014 das Jahr der Berufsbildung geworden. Recht hat er und Not tut dies! Denn die Berufsbildung macht eine Entwicklung durch, die von Extremen gekennzeichnet ist.

Trotzdem ist die aktuelle Situation paradox: Zum Ersten ist der Lehrlingsmangel offensichtlich. Im Juni 2014 waren 23‘500 Lehrstellen noch offen. 80‘000 angebotenen Stellen standen 73‘000 nachgefragte Stellen gegenüber. Zum Zweiten werden aktuell 28.8% der Ausbildungsverträge von Lehrlingen abgebrochen. Am häufigsten trifft dies im Gastgewerbe, bei den Coiffeuren und Schönheitspflegeberufen zu. Schliesslich ist laut Bundesamt für Statistik im Dezember 2013 jeder zehnte Jugendliche ohne Job. Drittens dreht jeder zehnte Jugendliche eine Warteschlaufe oder ist arbeitslos. So waren im Mai 2014 15‘399 Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren ohne Arbeit (SBFI, 2014) und 16‘500 befanden sich im Übergangssystem. Damit werden alle Angebote be­zeichnet, die eine Brücke bauen zwischen obli­gatorischer Schulzeit und einer Berufslehre resp. einer weiterführenden Schule. Dazu gehören beispielsweise ein Motivationssemester, ein 10. Schuljahr, eine Au-Pair-Stelle oder ein Praktikum. Jugendliche, welche sich in diesem Übergangssystem befinden, teilen eine gemeinsame Erfahrung: dass der Übergang Schule-Beruf für sie nicht erwartungsgemäss funktionierte. Die Hintergründe sind jedoch sehr unterschiedlich, so dass sich mindestens vier Gruppen Jugendlicher unterscheiden lassen:

Gruppe 1: Zu ihr gehören Jugendliche, welche zwar eine höhere Ausbildung angestrebt hatten, diese jedoch auf dem geraden gymnasialen Weg nicht erreichen konnten.

Gruppe 2: Sie umfasst solche Jugendliche, welche trotz mehr oder weniger intensiver Suche keinen Ausbildungsplatz gefunden hatten.

Gruppe 3: Sie bündelt solche Jugendliche, welche schlecht orientiert waren und deshalb ohne Planung ins Übergangssystem hineinstolperten.

Gruppe 4: Sie subsumiert diejenigen Jugendlichen, welche aufgrund ihres «strategischen Wartens» im Übergangssystem landeten, d.h., dass sie lieber eine weitere Schlaufe drehten als eine konkrete Ausbildung wählten.

Weshalb ist dies so? Folgt man den Erklärungen vieler Betriebe, so hat diese Situation einen kon­kreten Namen: die «fehlende Ausbildungsreife». Im April 2013 gaben mehr als 30% der befragten Betriebe als Gründe für ihre unbesetzten Lehrstellen einen «Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern» an (Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation [SBFI], 2014). Hört man sich etwas herum, so lässt sich der Begriff auch weiter konkretisieren: Neben schlechtem Benehmen oder Unpünktlichkeit klagen viele Lehrbetriebe über fehlendes Grundlagenwissen heutiger Jugendlicher. Bewerberinnen und Bewerber könnten kaum mehr einen Text ohne Fehler schreiben oder würden die minimalsten mathematischen Grundoperationen nicht mehr beherrschen.

Solche Klagen wirken neu, sind es aber nicht. Wir kennen sie seit mindestens zwanzig Jahren. Manchmal sind es einfach Schutzbehauptungen, weil sich Betriebe nicht verändern oder keine Ausbildungsplätze mehr anbieten wollen. Die Klagen sind jedoch so intensiv, dass sich die Bildungspolitik damit auseinandersetzen muss. Nur, was ist zu tun? Einfach mehr Drill von der obligatorischen Schule verlangen, damit sie diese Mängel behebt und garantiert, dass alle Schüler über «Mindestkompetenzen» verfügen? Wir alle wissen, dass dies angesichts der heutigen heterogenen Schülerklientel und unter den gegebenen finanziellen Bedingungen kaum im geforderten Tempo möglich sein wird. Sollen somit die Betriebe ihre Anforderungen nach Ausbildungsreife strikt durchsetzen und deshalb Ausbil­dungsplätze aufgrund fehlender Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber streichen? Dies wiederum wäre für die Nachwuchs- und Fachkräftesicherung unseres Landes fatal. Schon letztes Jahr verzeichnete der Verband für Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie Swissmem für seine Branche einen Rückgang der Neuanstellungen von Lehrlingen um 8%.

Insgesamt sollte die aktuelle Situation zum Anlass genommen werden sich zu fragen, weshalb nach wie vor viele Jugendliche, die eigentlich eine betriebliche Ausbildung anstreben (könnten), im Übergangssystem landen. Zu diskutieren wären zwei mögliche Ursachen:

erstens, dass es trotz eines erheblichen Ressourceneinsatzes bisher offenbar nicht gelungen ist, dieses Übergangssystem deutlich zu reduzieren. Vielleicht liegt es an der Vielfalt der Mas­snahmen. Aussenstehende gehen oft – nicht ganz zu Unrecht – von einem «Massnah­mendschungel» aus. Eine Systematisierung könnte zum Ziel haben, die Vielfalt zu reduzieren und die Angebote im Übergang Schule-Beruf so zusammenzufassen, dass sie zu einer tatsächlichen «Brücke» werden

zweitens, dass eine Änderung der Selektions- und Rekrutierungspraxen einen neuen Blick auf verborgene Potenziale zu Tage fördern könnte. Anzunehmen ist nämlich, dass die demographische Entwicklung ein Mehr an Durchlässigkeit erzwingen wird und zwar auf allen Ebenen, auch auf derjenigen des Übergangssystems.

Reflektiert und optimiert die Berufsbildung diese Faktoren, könnte sie einen bedeutsamen Wertbeitrag für die Attraktivität der Berufsbildung leisten und auch dem Nachwuchsmangel zumindest in Ansätzen begegnen. Aber dazu wäre ein Perspektivenwechsel nötig, der ein anders ausgerichtetes «Talentmanagement» (Stamm, 2012) zur Folge hätte.

Literatur

Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) (2014). Lehrstellenbarometer. Detaillierter Ergebnisbericht (April 2014). Bern: SBFI.

Stamm, M. (2012). Talentmanagement in der beruflichen Grundbildung. Dossier 12/2. Universi­tät Fri­bourg: Departement Erziehungswissen­schaften. http://www.margritstamm.ch/component/docman/cat_view/4-dossiers.html?Itemid=

Stamm, M. (2013). Lehrlingsmangel: Strategien zur Rekrutierung des Nachwuchses. Dossier Be­rufsbildung 13/2. Bern: Swiss Education. http://www.margritstamm.ch/component/doc­man/cat_view/4-dossiers.html?Itemid

Strahm, R. H. (2014). Die Akademisierungsfalle. Bern: h.e.p.

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