Weshalb wir mehr "normale" Kinder brauchen

erschienen in der Aargauer Zeitung/Nordwestschweiz unter dem Titel "Weg von der Defizitperspektive", 14.10., 18.

 

Haben Sie einen Ihnen nahestehenden Menschen verloren und trauern Sie nun schon mehr als ein Jahr um ihn? Stehen Sie manchmal vor dem Kühlschrank und bekommen eine Heisshungerattacke? Oder sind Sie Eltern eines Kindergärtlers, der noch keine zwanzig Minuten stillsitzen kann? Falls ja, dann sind dies alles ‚Störungen‘, die Sie behandeln oder therapieren lassen sollten. So zumindest ist der Trend des psychiatrischen Diagnosesystems DSM-5. Demnach hat jeder dritte Erwachsene heute irgendwelche Störung. Mehr als die Hälfte der Schulkinder werden in Therapien oder Alternativtherapien behandelt. In der Schweiz leben somit mehr kranke als gesunde Kinder. Warum gibt uns dies eigentlich nicht mehr zu denken? Unsere Kinder und Jugendlichen sind nämlich nicht gestörter als früher. Was sich verändert hat, sind die Etiketten. Es werden immer mehr Varianten des Normalen als pathologisch erklärt. Fast scheint es, dass unser Nachwuchs von unserer Therapiegesellschaft krank gemacht wird.

Noch vor zehn Jahren war dies anders. Damals wurde Begabtenförderung zu einem grossen Thema und der Satz «Jedes Kind ist entsprechend seinen Begabungen zu fördern» für viele Eltern und Pädagogen zur Leitidee. Heute sieht es in der Praxis jedoch vielfach anders aus. Bei Eltern, in der Schule und oft auch in der Medizin dominiert ein ausgeprägter Blick auf das Unvermögen von Kindern. Jede kleinste Abweichung gilt bereits als Entwicklungsstörung. Weshalb?

Selbstverständlich gibt es verschiedene Ursachen. So verfügen wir heute beispielsweise über viel mehr wissenschaftliches Wissen, das sich auch in einer umfassenderen, genaueren Diagnostik und neuen Technologien niederschlägt. Einer der Hauptgründe dürfte jedoch anderswo liegen: im Hype um die Frühförderung und der damit verbundenen Diagnosesucht. Zwar ist die Hauptbotschaft der Frühförderung – «je früher, desto besser» – vollkommen richtig. Denn die Vorschuljahre sind für eine gute Entwicklung besonders bedeutsam. Deshalb gilt Frühförderung zu Recht als wichtiges Fundament der gesamten Bildungslaufbahn. Doch hat diese Botschaft leider auch dazu geführt, dass nicht mehr die kindlichen Potenziale im Mittelpunkt stehen, sondern vor allem die krampfhafte Suche nach Defekten.

Es ist somit wenig verwunderlich, dass sich viele Eltern und auch Lehrkräfte massiv unter Druck fühlen. Schon bei der kleinsten Abweichung von der Norm ziehen sie einen Spezialisten bei, damit die Störung sofort therapiert werden kann und das Kind wieder den Erwartungen entspricht. Eines der Grundprobleme sind dabei die vielen Tests und Diagnoseinstrumente, welche auf dem Markt sind. Viele von ihnen sind handgestrickt, nicht überprüft und basieren oft lediglich auf subjektiven Einschätzungen. Sie können, besonders wenn sie von ungeschultem Personal genutzt werden, zu Fehldiagnosen führen. Dies trifft vor allem für Tests zu, die nur eine einzige Leistung in den Blick nehmen und deshalb schnell eine Störung identifizieren. Denn, wer sucht, der findet immer.

Ungeachtet solcher Probleme stellt sich die Frage, ob wir uns eigentlich bewusst sind, dass jeder Test und jede Diagnose, die auf einer Defizitperspektive basieren, ungewollte Folgen hat? Diagnosen pathologisieren, Therapien stigmatisieren. Kinder möchten jedoch normal sein. Aber das können sie nicht, wenn sie am Mittwochnachmittag statt auf den Spielplatz in die Ergotherapie müssen.

Unsere Gesellschaft ist auf dem besten Weg, die seelische und intellektuelle Gesundheit unseres Nachwuchses abzuschaffen und immer mehr normale in defekte Kinder zu verwandeln. Dieser Entwicklung könnten und müssten wir entgegentreten. Erstens, indem wir bei einem Kind erst bei ernsthaften und entwicklungsbeeinträchtigenden Anzeichen eine Abklärung in die Wege leiten. Deshalb sollten wir es von defizitorientierten Tests und Pseudodiagnosen erlösen und unnötige Therapien verhindern. Zweitens, indem wir uns an die 1990er Jahre zurückbesinnen und wieder vermehrt nach Begabungen und Stärken suchen, auf denen Kinder und ihre Eltern aufbauen können. Und schliesslich wäre es für viele Kinder eine Wohltat, wenn ihnen mehr Zeit zum ‚Wachsenlassen‘ zugestanden würde…

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