Wunderkinder zwischen Mythos und Realität

Ein Beitrag zum Lucerne Festival, «Kindheit – Biotope der Herkunft» am 26.08.2018

https://www.lucernefestival.ch/de/programm/alma-deutscher-sol-gabetta-martin-meyer-ua/869

 

Zwei Gründe nähren die Vermutung, es gäbe heute mehr Wunderkinder. Erstens berichten die Medien in grosser Regelmässigkeit von jungen Genies. Man denke an die TV-Sendung «Deutschland sucht den Superstar / Kids», in der musikalische Talente bis 14 Jahre präsentiert und beurteilt werden. Zweitens ist in den letzten Jahren das Interesse an den Möglichkeiten der Frühförderung enorm gestiegen. Gemässigte Formen von Frühreife wie Frühlesen und Frührechnen oder ein akzeleriertes NIveau in einem Musikinstrument sind heute recht verbreitet, aber es sind keine Indikatoren für die Definition eines Wunderkinds.

Was ist ein «richtiges» Wunderkind?

Verschiedentlich hört und liest man, Wunderkinder seien nichts anderes als ein Produkt überehrgeiziger Eltern. Eine solche Annahme ist falsch. Selbstverständlich gibt es Kinder, die in der Phantasie der Eltern Einmaliges leisten und dafür von allen bewundert werden sollen. Aber um diese Spezies Kinder geht es hier nicht, sondern um «richtige» Wunderkinder, bei denen der Begriff sehr wohl seine Berechtigung hat**. In der Wissenschaft gilt als Wunderkind, wer jünger als zehn Jahre alt ist und Leistungen auf einem Niveau erbringt, die üblicherweise Erwachsenen vorbehalten sind. Es sind somit das Alter und die Leistung auf Erwachsenenniveau, welche das Wunderkind auszeichnen und die Welt in Staunen versetzen*.

Natura non facit saltum – die Natur macht keinen Sprung: Diese Aussage von Aristoteles hat bei Wunderkindern keine Gültigkeit, zeigen sie doch Genie, bevor sie die Grundlagen der Vernunft kennen gelernt haben. Also kann ihre Ordnung nicht zwingend die der Natur sein und mit ihren physikalischen Gesetzen erklärt werden. Genauso kann das, was ein Wunderkind ausmacht, nicht einzig auf Erziehung oder eine ausserordentliche Intelligenz zurückgeführt werden.

Die Frage der Intelligenz

Die Frage, welche Rolle die psychometrische Intelligenz im Leben eines Wunderkindes spielt, ist nicht systematisch beantwortet. Doch in empirischer Hinsicht ist der Tenor eindeutig: Herausragende Intelligenz und aussergewöhnliche Leistung korrelieren nicht so wie erwartet miteinander, denn Wunderkinder lassen sich mit einem IQ von 120 bis zu 200 dokumentieren*. Auch spricht kaum etwas dafür, dass hohe Begabungen in nicht-intellektuellen Bereichen wie Musik, bildende Kunst oder Sport, einen aussergewöhnlichen IQ verlangen. Gemäss dem aktuellen Erkenntnisstand dürften domänspezifische Begabungsprofile mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen weit häufiger sein als hohe allgemeine Ausprägungsgrade**. 

Asynchrone Entwicklung und sensible Phasen

Das Entzückende und Aussergewöhnliche fasziniert bei jungen Kindern ganz besonders. Dies trifft nicht nur für die Wunderkinder Tate oder Vitus in den Kinofilmen mit Jodie Foster oder Bruno Ganz zu, sondern auch für viele, die im realen Leben früh schon Genie zeigen. Dass jedoch aus Wunderkindern lange nicht immer aussergewöhnliche Erwachsene werden, zeigt das aktuelle Beispiel der Pakistanerin Afra Karim Randhawa, die mit neun Jahren offiziell von Microsoft als Entwicklerin an Bord geholt worden war, anfangs 2012 jedoch im Alter von 16 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist. 

Individuelle Entwicklung ist kein gradliniger, sondern ein von Sprüngen und Diskontinuität gekennzeichneter Prozess. Entwicklung bedeutet nie nur einen Zuwachs an Kapazität oder Effizienz, sondern immer auch Abbau und Verlust***. Im hier diskutierten Kontext sind deshalb Studien zu Asynchronien von besonderem Interesse. Mit diesem Begriff wird der Sachverhalt umschrieben, dass die Entwicklung eines Wunderkindes in der intellektuellen, musikalischen, sportlichen oder künstlerischen Dimension akzeleriert, in anderen Bereichen jedoch retardiert erfolgen kann.

Die asynchrone Entwicklung ist auch der Schlüssel zum Verständnis des Wunderkind-Phänomens: Sie ist ein mögliches Ergebnis sensibler Phasen. Das sind Perioden mit einer besonderen Sensibilität, optimale Lernphasen also. Während der frühen Kindheit durchlaufen zwar alle Kinder solche sensiblen Phasen, doch Wunderkinder zeigen eine gesteigerte und sehr selektive Empfänglichkeit gegenüber allem, was sich in ihrer Umgebung abspielt. Sensible Phasen haben jedoch ihre eigene Geschichte, sie kommen und gehen, sie kündigen sich an, und sie bauen sich ab. Damit verweisen sie auf die Einmaligkeit bestimmter Lebensabschnitte in der kindlichen Entwicklung und auf das enorme, ihnen innewohnende Potenzial, das bei Wunderkindern offenbar spezifisch benutzt wird.

Die Midlife-Crisis

Wenn aus Wunderkindern nicht automatisch aussergewöhnliche Erwachsene werden, dann stellt sich die Frage, was jenseits dieser sensiblen Phasen charakteristisch ist. Es ist ein ganz persönlicher Entwicklungsschritt von Wunderkindern, wenn sie am Ende der Kindheit die Notwendigkeit erkennen müssen, dass ihre Virtuosität, ihre Schnelligkeit oder ihre Kreativität, die bislang ihre Einmaligkeit und Ungewöhnlichkeit ausgemacht hatte, nicht mehr ausreicht, um zu brillieren. Als Wunderkinder hatten sie lediglich die Aufgabe gehabt, eine besonders begabte Persönlichkeit zu entwickeln. Als jugendlicher Mensch müssen sie nun den Schritt tun, den aussergewöhnlichen und kreativen, eigenen Stil zu dokumentieren und ihn mit einmaliger Ausdrucksstärke, Denkfähigkeiten oder Perfektion anzureichern und das ursprünglich intuitive in bewusstes, methodisch basiertes Können umzulenken. An der Schwelle zum Erwachsenenalter erleben Wunderkinder diesen strengen Kontrast häufig als persönliche Midlife-Crisis****.

Aus solchen Gründen werden aus vielen Wunderkindern mit herausragenden Fähigkeiten nicht zwingend ebensolche Erwachsene: Der Weg vom Wunderkind zum Genie ist nicht vorgezeichnet. Zwar schaffen die sensiblen Phasen dem Kind begünstigende Möglichkeiten, Neues und Herausragendes zu erwerben und in seiner Entwicklung voranzuschreiten. Aber es kann diese aussergewöhnliche Kapazität im Zuge seiner eigenen Entwicklung wieder verlieren. Die grösste Herausforderung auf dem Weg vom Wunderkind zum herausragenden Erwachsenen liegt darin, die midlife-crisis zu überwinden. Und dies dürfte nur über persönliches Wachstum und emotionale Intelligenz gelingen.

Weiterführende Literatur

*Morelock, M. J., Feldman. D. H. (1993). Prodigies and savants: What they tell us about giftedness and talent. In K. A. Heller, F. J. Mönks, & H. A. Passow (Eds.). International handbook for research on giftedness and talent (pp. 161-181). Oxford: Pergamon.

**Stamm, M. (2014). Mythos «Wunderkind». In M. Stamm (Hrsg.), Handbuch Talententwicklung. Theorien, Methoden und Praxis in Psychologie und Pädagogik (S. 173-182). Bern: Huber.

***Baltes, P. B., Lindenberger, U. & Staudinger, U. (1998). Life-span theory in developmental psychology. In R. M. Lerner (Ed.), Handbook of Child Psychology, Vol. 1: Theoretical models of human development (pp. 1029-1144). New York: Wiley.

****Bamberger, J. (1982). Growing up prodigies: The midlife crisis. In Feldman, H. (Ed.). Developmental approaches to giftedness and creativity. San Francisco: Jossey-Bass, 61-77.

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