Schulen als Leuchttürme für mehr Chancengerechtigkeit

Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Bildungschancen ungleich verteilt sind. Gemäss dem Prinzip der Chancengerechtigkeit müsste allen Menschen nicht nur der Zugang zur Ausbildung gleichermassen offen stehen, sondern auch faire Chancen zur Überwindung von Nachteilen und zur Entdeckung von Potenzialen. Mit Blick auf Kinder aus einfachen Sozialschichten ist dieses Postulat nicht verwirklicht. Auch wenn sie die gleichen kognitiven Fähigkeiten haben wie Kinder aus privilegierteren Sozialschichten, sind sie weniger schulerfolgreich und finden den Weg ans Gymnasium deutlich seltener. Unserer Gesellschaft geht deshalb jedes Jahr ein grosses Reservoir an intellektuellem Potenzial verloren.

Primäre und sekundäre Herkunftseffekte

Dass die Herkunft weitgehend über den Bildungserfolg entscheidet, ist schon fast pädagogische Folklore. Üblicherweise wird dies im Anschluss an Raymond Boudon* mit den so genannten primären und sekundären Herkunftseffekten erklärt. Die primären Effekte umfassen die aufgrund unterschiedlicher familiärer Anregung und Unterstützung unterschiedlich guten Schulleistungen. Die sekundären Effekte erklären, weshalb Kinder trotz gleichen Leistungen und kognitiven Fähigkeiten je nach Herkunft in unterschiedlich anspruchsvolle Schullaufbahnen gelangen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass Eltern unterschiedliche Bildungsentscheidungen treffen. Hierzu liegen verschiedene empirische Untersuchungen vor:

  • IGLU-Studie: Wilfried Boos** hat diesen Sachverhalt für die Internationale Grundschule-Lese-Untersuchung (IGLU) belegt. Für Kinder aus Akademikerfamilien genügte bereits eine Leseleistung von 537 Punkten, um von den Lehrkräften eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Eltern hingegen sind schon bei einem Niveau von 498 Punkten davon überzeugt. Ganz anders sieht es für Arbeiterkinder aus. Erst, wenn sie 606 Punkte erzielten, bekamen sie die Empfehlung, und ihre Eltern liessen sich erst davon überzeugen, wenn sie 614 Punkte erreichten. Ihre Chance war somit 2.6-mal kleiner, aufs Gymnasium zu wechseln als für Kinder aus besser situierten Familien. Für Kinder aus der Un­terschicht hingegen ist ein IQ von 115 erforderlich.
  • «Herkunft zensiert»: Fast Identisches weist die Studie von Kai Maaz, Franz Baeriswyl und Ulrich Trautwein*** nach: Kinder aus einfacheren Sozialschichten bekamen schlechtere Noten, auch wenn sie in Prüfungen gleich gut wie Kinder aus sozial gut gestellten Familienabschnitten. Darüber hinaus spielten Fleiss, Leistungsbereitschaft und gutes Verhalten eine Rolle. Verhaltensangepasste Schüler wechselten eher ans Gymnasium.
  • FASE B-Studie: Markus Neuenschwander**** kam in seiner Langzeitstudie «Familie-Schule-Beruf» (FASE B) zu folgendem Schluss: Zwar sind die Leistungen der Kinder stärker von den Erwartungen der Eltern abhängig als von denjenigen der Lehrkräfte. Aber die Eltern beeinflussen die Lehrkräfte so, dass diese einem Kind von Eltern mit hohen Bildungserwartungen bei gleicher Leistung bessere Noten geben als einem Kind von Eltern mit tieferen Erwartungen.
  • Studien zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Lehrpersonen haben bei gleichen Leistungen andere Leistungserwartungen je nachdem, ob es sich um ein einheimisches oder ein Arbeiter- resp. Migrantenkind aus einfachen Sozialschichten handelt oder ob es aus einer Familie mit höherem oder tieferem sozialem Status kommt. Kinder haben die Tendenz, solche Erwartungen zu erfüllen. Verzerrte Leistungserwartungen führen auch zu einem unterschiedlichen Leistungszuwachs.

Lehrererwartungen lassen sich verändern

Alle diese Erkenntnisse zeigen die vorhandenen Probleme auf. Aber es gibt auch positive Nachrichten: Lehrererwartungen lassen sich verändern! Darauf verweist eine bemerkenswerte Anzahl an Schulen und Projekten, welche erfolgreich an solchen Haltungen arbeiten und Kinder aus benachteiligten Sozialschichten besonders gut fördern. Sie sind Leuchttürme und deshalb Modelle dafür, dass mehr Chancengerechtigkeit nicht lediglich ein hohles Versprechen sein muss.

Empirisch nachweisen konnten die Markus Neuenschwander und sein Team (FHNW)*****. Ihre Studie mit dem Titel «Förderung von Kindern aus sozial heterogenen Schulklassen» weist nach, dass nach einer Weiterbildung die Leistungserwartungen der Lehrpersonen an ihre Kinder nicht mehr verzerrt waren und der Leistungszuwachs in Deutsch und Mathematik bei benachteiligten und privilegierteren Kindern fast gleich verläuft.

Abschaffung der Begriffe «bildungsfern» und «bildungsnah»

Schliesslich sollten wir im Hinblick auf mehr Chancengerechtigkeit noch ganz woanders ansetzen: bei der Abschaffung der Begriffe «bildungsfern» und «bildungsnah». In der PISA-Studie wird Bildungsferne oder Bildungsnähe definiert auf der Basis der Meter an Büchern, welche eine Familie besitzt, ob das Kind ein eigenes Zimmer und einen eigenen Schreibtisch hat, ob und wie viele Jahre Vater und Mutter ausgebildet wurden und wie oft die Familie miteinander Theater oder Bibliotheken besucht. Solche Indikatoren sind zwar empirisch erfassbar, aber sie geben vor, dass es bei geringer Ausprägung derselben so etwas wie ein willentliches Fernbleiben von der Bildung gibt und Kinder aus einfachen Sozialschichten deshalb «ungebildet» sind. In der Praxis ist es jedoch so, dass sich gerade Arbeiterkinder mit intellektuellem Potenzial oft sehr für Bücher und Zahlen interes­sieren, zu entsprechenden Ressourcen jedoch nur unter erschwerten Bedingungen Zugang haben. Andererseits gibt es nicht selten so genannt «bildungsnahe» Jugendliche, welche sich zwar überhaupt nicht für in­tellektuelle Fragen oder entsprechenden Schulstoff interessieren, aufgrund ihrer sozialen Herkunft jedoch automatisch als «gebildet» gelten.

Viele Kinder aus einfachen Familien sind nicht «bildungsfern», sondern nur «bildungssystemfern». Weder die Anzahl Schuljahre noch die Lohntüte der Eltern oder die Laufmeter an Büchern sagen etwas aus darüber, wie nahe an der Bildung jemand ist.

Weiterführende Literatur

*Boudon, R. (1974). Education, opportunity, and social inequality. New York: Wiley.

**Bos, W., Tarelli, I., Bremerich-Vos, A. & Schwippert, K. (Hrsg.). (2012). IGLU 2011 – Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann.

***Maaz, K., Trautwein, U. & Baeriswyl, F. (2011). Herkunft zensiert – Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheiten in der Schule. Berlin: Vodafone Stiftung Deutschland.

****Neuenschwander, M. P. (2013). Selektion beim Übergang in die Sekundarstufe I und in den Arbeitsmarkt im Vergleich. In M. P. Neuenschwander (Hrsg.), Selektion in Schule und Arbeitsmarkt (S. 63-97). Zürich/Chur: Rüegger.

*****Neuenschwander, M. et al. Bildungschancen in sozial heterogenen Schulklassen fördern (SCALA) https://www.fhnw.ch/ppt/content/prj/T999-0372

Überförderte und überforderte Kinder
Verweichlicht oder übersensibel? Gedanken zur Frus...

Ähnliche Beiträge

 

Kommentare

Derzeit gibt es keine Kommentare. Schreibe den ersten Kommentar!
Bereits registriert? Hier einloggen
Gäste
Samstag, 20. April 2024

Sicherheitscode (Captcha)

By accepting you will be accessing a service provided by a third-party external to https://www.margritstamm.ch/