Begabte Minoritäten: Fünf Mythen, warum ihr Potenzial übersehen wird

Die soziale Herkunft zensiert*. Diesen Titel trägt eine Studie, an der Franz Baeriswyl von der Universität Fribourg mitgearbeitet hat und empirisch belegt, was wir eigentlich schon lange wissen: Kinder aus einfach gestellten Familien bekommen schlechtere Noten, auch wenn sie in Prüfungen gleich gut wie Kinder aus sozial gut gestellten Familien abschneiden.

Begabtenförderung und ihre sozialen Ungleichheiten

Ungleichheit zeichnet sich aber auch in der Begabtenförderung ab. Dies erstaunt, könnte man doch davon ausgehen, dass überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten das Tor zum Erfolg – sprich zur Förderung – sind. Dem ist aber keinesfalls so. Obwohl etwa 30 Prozent der Schüler in der Volksschule einen Minoritätsstatus haben, sind sie nur zu fünf bis acht Prozent in Begabtenförderprogrammen beteiligt**. Einen Minoritätsstatus haben alle jungen Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, über eine geringe Ressourcenausstattung verfügen und durch Lebensbedingungen und Lebensführung von der anerkannten schulischen Wissens- und Lernkultur weit entfernt sind.

Weshalb dem so ist, habe ich schon in verschiedenen wissenschaftlichen Artikeln belegt: Es sind in erster Linie theoretische Konzepte, ethnozentrisch gefärbte Einstellungen und falsche Identifikationsstrategien, welche zu dieser für Minoritäten negativen Bilanz führen.

In diesem Blog geht es mir aber um ganz alltägliche und in der Gesellschaft vorherrschende Vorstellungen, welche ebenfalls an der «Kultur des Übersehens» beteiligt sind. Ich nenne diese Vorstellungen Mythen.

Hochbegabte Schüler sind die besten der Klasse

Zwar mag es widersinnig scheinen, doch hochbegabte Schüler sind lange nicht immer die besten und eifrigsten der Klasse. Ein möglicher Grund ist die Diskrepanz zwischen dem Kind und den verfügbaren schulischen Lernmöglichkeiten. Manchmal sind hochbegabte Kinder in traditionellen schulischen Settings gelangweilt. Diese Langeweile kann sich als Unaufmerksamkeit, als Uninteressiertheit oder als Apathie zeigen.

Hochbegabte Schüler zeigen ihr herausragendes Können

Obwohl wir wissen, dass beste Schulnoten nicht mit Hochbegabung gleichgesetzt werden können, erwarten wir trotzdem, dass solche Kinder mit einem grösseren Vorwissen oder einem herausragenden Sprachvermögen in der Schule auffallen. Zwar lassen solche Faktoren eine überdurchschnittliche Begabung tatsächlich vermuten, doch ist dies des Öfteren nicht der Fall. Der Hauptgrund ist das nicht angemessene häusliche Umfeld, in dem keine Lernanregungen vorhanden sind und Eltern der Bildung auch nur wenig Bedeutung beimessen.

Hochbegabung ist etwas Statisches

Viele Menschen sind davon überzeugt, dass man entweder hochbegabt ist oder dann nicht. Obwohl oft debattiert wird, wie Hochbegabung definiert und gemessen werden soll, geht es im Kern eigentlich um die Frage, ob sie angeboren ist oder entwickelt (gefördert) werden kann. Diese Diskussion ist mehr als 100 Jahre alt. Heute besteht eine allgemeine Übereinstimmung, dass die Intelligenz zwar in hohem Masse durch die Gene bestimmt ist. Damit sie sich jedoch entfalten kann, braucht es eine anregende Lernumgebung. Vererbte Anlagen können sich somit entwickeln, also «Nature via Nurture».

Alle hochbegabten Menschen zeigen die gleichen Merkmale

Es gibt kaum zwei Kinder, die genau gleich sind. Das gilt auch für ihre Begabungen und Talente. Das eine Kind ist vielleicht aussergewöhnlich im Spracherwerb, hat aber Schwierigkeiten mit der Feinmotorik oder mit den Alltagsroutinen. Ein anderes Kind fällt möglicherweise durch sein feinmotorisches Geschick auf, z.B. durch die Fähigkeit, unüblich komplexe Dinge mit den Händen konstruieren zu können. Ein drittes Kind zeigt vielleicht ein beeindruckendes mathematisches Zahlenverständnis, hat aber Mühe, sich sprachlich altersgemäss zu formulieren.

Alle hochbegabte Kinder brauchen die gleiche schulische Förderung

Aus der Tatsache, dass zwei Kinder nie identisch sind, folgt, dass Kinder auch nie gleich auf die gleichen Lernerfahrungen reagieren. Lehrkräfte müssen deshalb auf die Bandbreite solcher Verhaltensmerkmale sensitiv antworten. Einige Kinder mögen neue Informationen sehr schnell aufnehmen, während andere die Aktivitäten rasch wechseln und ständig Neues explorieren wollen. Dritte wiederum suchen ältere Kinder als Spielkameraden.

Fazit

Es erstaunt kaum, dass Mittelschichtkinder deutlich öfters als hochbegabt identifiziert werden als Kinder aus weniger privilegierten Sozialschichten. Da solche Kinder selten Spitzenleistungen vollbringen, diese aber oftmals als das Identifikationsmass für Hochbegabung schlechthin gelten, wird ihr Potenzial kaum erkannt. Verschiedene Studien gehen davon aus, dass dies für sechs von zehn hochbegabten Kindern aus Minoritätsfamilien zutrifft. Das gibt zu denken.

Ein erstes Ziel jeglicher demokratisch orientierter Begabtenförderung müsste deshalb sein, alles zu unternehmen, um die negativen Verflechtungen von sozialer Herkunft und Begabtenförderung zu entkoppeln. Eine wichtige Aufgabe der in diesem Bereich engagierten Fachpersonen sollte deshalb sein, diese Mythen in ihrem Umfeld kritisch zu diskutieren.

Weiterführende Literatur

*Maaz, K., Trautwein, U. & Baeriswyl, F. (2011). Herkunft zensiert. Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheiten in der Schule. Vodafone Stiftung Deutschland.

** Stamm, M. (2009). Begabte Minoritäten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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