Ob reich oder arm: Jede Familie lebt in der Risikogesellschaft

Wir leben in einer Risikogesellschaft. Dieser vom Soziologen Ulrich Beck im gleichnamigen Buch geprägte Begriff meint, dass in unserer hoch entwickelten Gesellschaft mehr Risiken entstanden sind und laufend entstehen, als unsere staatlichen Kontrolleinrichtungen zu bewältigen vermögen. Dazu gehören soziale, ökologische, politische, aber auch individuelle Risiken. Während einerseits heute jeder Mensch deutlich höhere Chancen hat, sich selbst zu verwirklichen und viel mehr Handlungsspielräume bestehen als in jeder Generation zuvor, fehlen soziale Normen und Vorgaben, welche Handlungs- und auch Erziehungssicherheit geben würden. Eine solche »Entbettung der Verhältnisse«, wie der Sozialwissenschaftler Anthony Giddens dieses Phänomen nennt*, sind in allen Lebensbereichen spürbar. Eindeutige Leitbilder für Familie, Beruf oder für das Aufwachsen und Erziehen des Nachwuchses fehlen, Mütter und Väter deshalb mit zwiespältigen Gefühlen leben müssen.

Woher kommt diese Zwiespältigkeit? Unter anderem aus der Konfrontation mit komplexen und teilweise auch widersprüchlichen Lebensbedingungen. Fünf Gründe hierfür stehen im Vordergrund:

Zunahme der Unsicherheit in der Erziehung: Vor der Geburt des ersten Kindes mangelt es der Mehrzahl junger Eltern an Erfahrung im Umgang mit Babys und Kindern. Für viele Väter und Mütter ist das eigene Kind der erste Säugling, den sie in den Armen halten. Deshalb fehlt ihnen das bisher über Generationen selbstverständlich vermittelte und durch das natürliche Zusammenleben erfahrene Know-how.

Konzentration auf das einzelne Kind: Weil die moderne Familie nur noch ein bis zwei Kinder hat, konzentriert sie sich stark auf das einzelne Kind, während in früheren Generationen die Geschwister und Nachbarskinder ein eigenes System in der Familie bildeten und ihre Eltern in der Erziehungs- und Betreuungsaufgabe entlasteten. Die Kinder waren deshalb auch nicht in einem vergleichbaren Sinn wie dies heute der Fall ist auf die ständige Präsenz der Eltern angewiesen.

Fehlende Spielkameraden: Sowohl der Geburtenrückgang als auch die Tendenz, Vorschulkinder in Förderkurse zu schicken und sie familienergänzend betreuen zu lassen haben dazu geführt, dass Spielkameraden in der Nachbarschaft fehlen. Deshalb müssen Eltern immer mehr Aktivitäten entwickeln, um ihre Kinder mit anderen Kindern zusammenzubringen. Diese Verinselung der Kindheit** hat zur Folge, dass vor allem Mütter verstärkt zu Transporteurinnen werden, aber auch zu Managerinnen, welche die Zeitorganisation der Kinder mit derjenigen der Familie in Übereinstimmung bringen müssen.

Mehr Fachwissen, mehr Diagnostik, mehr Experten: Die Leistungsanforderungen an Eltern haben aber auch deshalb zugenommen, weil Medizin, Psychologie und Pädagogik heute über ein viel größeres Wissen verfügen und ihre Erkenntnisse in vielen Ratgebern und Newsletters an die Eltern weitergeben. Als guter Vater oder gute Mutter gilt, wer über dieses Wissen verfügt, weshalb Eltern stärker bereit sind, die notwendige Informationsarbeit zu leisten. Zudem stehen viele Experten zur Verfügung, die manchmal sogar vorbeugend eingesetzt werden, um den Lauf der kindlichen Natur zu korrigieren.

Zukunftsangst und der Vergleich mit dem sozialen Nachbarn: Eltern haben zwar noch nie so viel über Erziehung und Bildung gewusst und noch nie so viel für ihre Kinder getan, aber ebenso hat noch keine Generation vor ihnen eine derart grosse Zukunftsangst entwickelt. Das fast grenzenlose Vertrauen der 68er-Generation in die Zukunft ist durch das enorme Misstrauen heutiger Eltern ersetzt worden. Vielleicht gerade deshalb ist der Vergleich mit »dem sozialen Nachbarn« so wichtig geworden***. Soziale Nachbarn dienen als Vergleichsmassstab für die Art und Weise, wie sich der Nachwuchs entwickelt, wie erfolgreich er ist, was er schon kann und was aus ihm werden soll.

All diese neuen Bedingungen der Risikogesellschaft haben dazu geführt, dass Familien mit deutlich höheren Leistungsanforderungen konfrontiert werden, was sie wiederum verletzlich und fragil macht. Was der Nachwuchs einmal beruflich tatsächlich erreichen und wie er sich durchsetzen kann, bleibt auch in der bildungsambitioniertesten Familie unsicher. Wir alle leben in einer Risikogesellschaft, weshalb wir nicht verhindern können, dass die Konkurrenz möglicherweise besser ist.

Eltern, die sich von der Zukunftsangst emanzipieren, dafür auf die Entwicklung von Persönlichkeitsmerkmalen wie Selbstbewusstsein, Durchsetzungsfähigkeit oder Frustrationstoleranz setzen, geben ihrem Kind wahrscheinlich das beste Rüstzeug für eine in jedem Fall unsichere Zukunft mit. Janusz Korczaks**** Forderung nach einem «Recht der Kinder auf den heutigen Tag» ist hoch aktuell. Die Kindheit sollte wieder mehr zu einem autonomen Stadium im Hier und Jetzt werden, in dem Kinder Wurzeln schlagen können.

Weiterführende Literatur

*Giddens, A.: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996.

**Kränzl-Nagl, R. & Mierendorff, J.: »Kindheit im Wandel. Annäherungen an ein komplexes Phänomen«, in: SWS-Rundschau, 47, 1, 2007, S. 3–25.

***Simmel, G.: »Der Streit«, in: G. Simmel (Hrsg.): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker und Humblot 1992, S. 186–255.

****, J.: Wie liebt man ein Kind: Das Kind in der Familie2002

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