Perfektionismus in Zeiten der Selbstoptimierung

Die Schweiz hat an den World Skills in Abu Dhabi 20 Medaillen gewonnen, davon 11 goldene. Hinter China rangiert sie in der Nationenwertung auf dem zweiten Platz. Zustande gekommen ist diese herausragende Leistung unter anderem auch wegen des Perfektionismusstrebens der Beteiligten in der Vorbereitung zum und der Durchführung während des Wettbewerbs.

Gesunder Perfektionismus

Die Interviews, welche die Medaillengewinnerinnen und -gewinner anschliessend den Medien gegeben haben, machten deutlich: Sie haben eine gesunde Portion Perfektionismus entwickelt. Ihre Vorbereitung und die Arbeit während des Wettkampfs wollten sie so gut wie möglich erledigen. Sie hatten hohe Ansprüche und Ziele. Sie versuchten, ihr Bestes zu geben, freuten sich riesig über ihren Erfolg, gestanden sich aber auch ein, wo sie auf dem Weg oder im Wettkampf selbst nicht alles richtig gemacht hatten. Fehler waren und sind für sie kein Weltuntergang. Gesunde Perfektionisten sind Menschen, die zwar richtig gut sein wollen, aber keine Angst davor haben, Fehler zu machen, vielleicht auch mal zu versagen und nicht gleich ihre gesamte Persönlichkeit infrage zu stellen. Sie können den Erfolg ihres Handelns geniessen und achten ebenso auf ihre eigenen Bedürfnisse.

Selbstoptimierungsdruck und Vollkommenheitsvorstellungen

Ewas problematischer ist der Selbstoptimierungsdruck, den Heinz Bude in seinem Buch «Gesellschaft der Angst»* beschreibt. Männer und Frauen –  diese in der Tendenz ausgeprägter – sind nur dann mit sich selbst zufrieden und bezeichnen sich nur dann als erfolgreich, wenn sie Job, Partnerschaft und Familie souverän balancieren können. Und wenn die Wohnungseinrichtung geschmackvoll ist, der Körper durchtrainiert und makellos und keine überzähligen Pfunde da sind oder Couperose in den Oberschenkeln. Das Damoklesschwert solcher Perfektionisten hängt über allen Bereichen ihres Lebens. Gehen Vollkommenheitsvorstellungen mit Selbstüberhöhung und Leistungsorientierung einher, dann gelten solche Persönlichkeitsvorstellungen oftmals als Selbstüberforderung.

Eine derart perfektionistische Haltung bezeichnet Christine Altstötter-Gleich als problematisch, weil sie ins Ungesunde oder Dysfunktionale abgleiten kann. Wo jedoch der Übergang vom gesunden zum ungesunden Perfektionismus ist, kann auch sie sie als wohl bekannteste Perfektionismusforscherin** nicht genau verorten. Eine Ursache dürfte sicher die ständige Angst sein, Fehler zu machen und zu versagen und deshalb die Anerkennung von anderen nicht mehr zu bekommen. Deshalb legen manche die Latte an sich selbst, an die Arbeit oder die Partnerschaft noch höher. Empfinden sie sich in einer Situation dauernder Bewältigungsanstrengung und Bewährung, dann ist der Weg zum ungesunden Perfektionismus nicht mehr weit. Solche Menschen ignorieren Erschöpfungssymptome, die sich oft in körperlicher Hinsicht zeigen (Hörsturz, einseitige Gesichtslähmung, Kopfschmerzen etc.) und gönnen sich trotzdem keine Erholung oder vernachlässigen auch ihre Freundschaften. Irgendwann einmal kommt dann das Gefühl, dass gar nichts mehr geht, weder privat noch im Beruf. Plötzlich bricht das ganze System zusammen; bei Miriam Meckel *** war es mitten in einem Kongressaufenthalt.

Perfektionssymptome bei Müttern

Laut Altstötter-Gleich sind Frauen, insbesondere Mütter, besonders gefährdet, ungesunde Perfektionismussymptome zu entwickeln. Den Hauptgrund sieht sie in den unklaren gesellschaftlichen Standards, welche Leistungen eine gute Mutter ausmachen: «Soll man das Kind in die Krippe geben? Wenn ja, ab wann und wie lange? Sollte man als Mutter arbeiten? Ganztags oder lieber halbtags? Ab wann darf das Baby Fleisch essen, ab wann sollte das Kind sprechen?» Die Meinungen hierzu sind  gespalten, und für jede Meinung gibt es einen Erziehungsratgeber oder ein Mama-Forum. Dazu kommen die unterschiedlichen Überzeugungen der Freundinnen, der Gross- und Schwiegermütter und der Kinderärzte. Dies alles bringt Gefühle hoher Leistungserwartungen mit sich. Einerseits möchte man eine wirklich gute Mutter sein, doch andererseits ist das Gefühl der Selbstüberforderung da, hervorgerufen durch die Unmöglichkeit, den (unangemessenen) eigenen oder externen Erwartungen zu genügen.

Die "Vererbung" von Perfektionismus

Die Grundlage für Perfektionismusstreben wird schon im Elternhaus gelegt, davon ist Altstötter-Gleich überzeugt. Eltern sind für Kinder wichtige Modelle. Dass man früh im Leben gelernt hat, Leistung als wichtig zu erachten, ist natürlich alles andere als negativ. Doch kommt es sehr darauf an, wie Eltern mit ihrem Perfektionsismusstreben umgehen und wie sie Fehler ihrer Kinder oder nicht erfüllte Anforderungen sanktionieren. Schimpfen sie, strafen sie, agieren sie mit Liebesentzug oder werden Fehler auch verziehen? Kinder, die emotionale Zuwendung bekommen, wenn sie Fehler gemacht haben und von Mama und Papa unterstützt werden, daraus zu lernen, sind viel weniger anfällig, ungünstige Perfektionsimussymptome zu entwickeln.

Emotional distanzierte Erziehung, kombiniert mit hohen Leistungsanforderungen, ist die beste Voraussetzung für einen negativen (dysfunktionalen) Perfektionismus. Kinder suchen immer nach Wärme, Zuneigung und Geborgenheit und nach Anerkennung ihrer Leistung. Bekommen sie diese nicht, weil ihre Leistungen den Eltern nicht genügen, dann geraten sie in einen Teufelskreis. Entweder entwickeln sie einen ungesunden Perfektionsimus, indem sie sich noch mehr anstrengen, um die Zuneigung der Eltern zu erhalten und die erhoffte Aufmerksamkeit zu bekommen. Oder dann identifizieren sie sich mit der "erlernten Hilflosigkeit" und werden vielleicht zu schlechten Schülern, so genannten Minderleistern****.

Weiterführende Literatur

*Bude, H. (2014). Gesellschaft der Angst.

**Altstötter-Gleich, C. et al. (2014). It depends: Perfectionism as a moderator of experimentally induced stress. Personality and individual differences, 6330-6335.

***Meckel, M. (2010). Brief an mein Leben. Hamburg: Rowohlt.

****Stamm, M. (2008). Perfektionismus und Begabung. News&Science, 36-40. http://www.margritstamm.ch/dokumente/online-publikationen/180-perfektionismus-und-hochbegabung-2008/file.html

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